Die dänische Autorin Tine Høeg legt mit ihrem dritten Buch „Hunger“ die autofiktionale Dokumentation über einen existenziellen Wunsch nach Mutterschaft vor.
Dieser Roman ist das Dokument einer neun Monate dauernden Tortur. Doch keine neun Monate, in denen im Körper der Ich-Erzählerin Mia ein Kind heranwächst, sondern neun Monate, in denen sie verzweifelt versucht, schwanger zu werden. Mia ist 35, lebt in Kopenhagen und ist eine bekannte Autorin und schillernde Persönlichkeit.
Auf der Straße wird sie erkannt und auf ihre Romane angesprochen, die auch im Theater auf die Bühne kommen. Mia ist mit dem etwas älteren Emil zusammen und sie versuchen seit einem Jahr ein Kind zu bekommen – als das nicht klappt, unterzieht sich Mia einer Fertilitätsbehandlung mit anschließender künstlicher Befruchtung.
Medizinische Prozeduren
Der Roman hat die Form eines Tage- oder Notizbuchs, in dem Mia täglich die medizinisch komplizierten, schmerzhaften und immer wieder dramatisch enttäuschenden Prozeduren festhält, denen ihr Körper ausgesetzt ist.
2. Mai: Ich bin es die Hormone nehmen muss, zwei Tabletten oral in den ersten fünf Zyklustagen um meine Eizellen zur Reife zu bringen, vielleicht kann ich zwei oder sogar drei produzieren, wie eine Käfighenne der man Gift spritzt damit sie schneller wächst, ich bin es die zum Ultraschall muss, und wenn die Eibläschen groß genug sind bin ich es der man in den Bauch sticht um den Eisprung in Gang zu setzen, und sechsunddreißig Stunden später bin ich es die mit Emils Samen befruchtet wird, und ich bin es die sich anschließend morgens und abends Zäpfchen in die Scheide stecken muss um meine Schleimhaut so zu stärken dass sie das Ei festhält. Vielleicht wäre es ganz gut wenn du damit aufhörst die ganze Zeit daran zu denken sagte Emil neulich und ich hätte schreien oder lachen können. Wie sollte das möglich sein? Ich bin allein ich fühle einen Hunger von dem ich nicht weiß ob er je gestillt wird.
Dieser „Hunger“ nach einem Kind wird zur alles vereinnahmenden Obsession der Erzählerin Mia; ein Hunger, der alles andere verdrängt und ein Leben ohne Kind sinnlos erscheinen lässt.
Literarische Sogwirkung
Die Autorin Tine Høeg kreiert im für sie typischen notizhaften Stil von hingeworfenen Gedanken, schnell aufeinander folgenden Sätzen ohne Punkt und Komma das sprachliche Abbild eines inneren Sogs. Mit ihm wird man - rhythmisch, dicht und poetisch – hineingezogen in den alles beherrschenden Wunsch nach einer ersehnten Schwangerschaft.
3. Juni: Negativer Test 4. Juni: Ich will jetzt besser sein. Ich will fröhlicher sein, alles von der heiteren Seite betrachten. Meltdown gestern Abend. Lust zu sterben, ich will mich kneifen, mich blutig kratzen, ich will an einem dunklen Meer stehen und schreien. Eins werden mit meinem Schrei was ist los fragt Emil. Mia, was ist los? Ich glaube nicht, dass es klappt sage ich. Emil ist still. Dann sagt er verbissen: aber ich glaube es. Ich sehe ihn an und er weint
Der Roman „Hunger“ ist ein eindrucksvolles Protokoll davon, wie das gesellschaftliche Ideal einer eigenen biologischen Familie sich in sein dunkles Gegenteil verkehrt, sobald die Körper nicht entsprechend funktionieren. Denn obwohl es Emils Spermien sind, die zu großem Teil nicht zeugungsfähig sind, wird das Versagen einer ausbleibenden Schwangerschaft der Frau angelastet. In ihrem Körper wird der Kampf um ein Kind ausgetragen.
Schwanger werden oder sterben
Die vielen fehlgeschlagenen Versuche der künstlichen Befruchtung, die körperlichen Belastungen durch die Hormone, die wiederkehrenden Enttäuschungen der negativen Schwangerschaftstest – all das lässt die ungewollte Kinderlosigkeit für Mia zu einer allmählichen Nahtoderfahrung werden.
„Ich will schwanger werden oder sterben“ ist ein wiederkehrender Satz aus „Hunger“, der ihr Erleben auf den Punkt bringt. Als ihre Emotionen immer extremer werden und für ihre Umwelt immer weniger nachvollziehbar, droht der Wunsch nach einem Kind auch die Beziehung zu zerstören:
24. November: Aber ich erlebe ja das alles weil ich mich so wahnsinnig danach sehne Mutter zu werden. Das ist das Brennglas durch das ich alles sehe, und ich empfinde tiefen Hass gegenüber allen bei denen dieses Bedürfnis gestillt ist. Ich denke an den Körper der Frau. Brutalität und Tod ob sie nun gebiert, abtreibt oder nicht schwanger werden kann, der Körper der Frau ist ein Ort der Gewalt. Du kultivierst deine schlechten Gefühle, sagt Emil. Gestern sagte er: manchmal habe ich das Gefühl ich bin nur Statist für deine Gefühle
Das einzige, an was Mia sich halten kann, ist ihr Schreiben, das schriftliche Festhalten ihrer Erlebnisse.
10. Juli: Meine Arbeit muss sein: diesen Text schreiben. Ich hatte das Schreiben als eine Fluchtmöglichkeit gesehen. Ich wollte eine andere Welt schaffen, aber ich muss hierbleiben. Mit meinem Blut schreiben. Kein Schluss, keine Erlösung, kein Plot nur endloser langwieriger Schrecken
Kinderlosigkeit als Strafe
In diesem Raum des Schreibens entwickelt Tine Høeg auch ein gesellschaftliches kritisches Nachdenken über Fruchtbarkeit und den daran gebundenen Wert eines Frauenkörpers.
Sie erkundet die bis heute einflussreiche Bedeutung von Schwangerschaft in der christlichen Tradition; in der Kinderlosigkeit die Strafe Gottes bedeutet was in der Entwicklung der Medizin wiederum dafür sorgte, dass Zeugungsunfähigkeit bei Männern bis heute wenig erforscht ist. Und sie beobachtet mit größer Härte gegen sich selbst, dass die ausbleibende Schwangerschaft in den weiblichen Selbsthass führen kann.
5. Juli: Ich habe Angst die Verbindung zu meinem Körper zu verlieren. Ich hasse ihn, sage ich zu Emil. Ich ertrage es nicht ihn länger anzusehen. Ich habe Lust ihn abzuschrauben und ihn den Ärzten zu geben und nur ein Kopf zu sein bis ich schwanger bin. Ich habe Lust darauf von mir selbst befreit zu werden. Von jetzt an will ich nicht mehr hoffen, das ist zu hart.
Ob Mia am Ende doch noch schwanger wird, lässt das Buch offen. Es endet nach neun Monaten Aufzeichnungen und entlässt ganz bewusst nicht in ein glückliches Ende. In jeder Zeile Schmerz „Hunger“ ist ein verstörend aufrichtiges und oft aufwühlendes Protokoll von der unbedingten Sehnsucht nach Mutterschaft.
Tine Høeg hat ein eindrucksvolles autofiktionales Buch geschrieben, in dem aus jeder Zeile der Schmerz spricht. Darüber hinaus fragt es kritisch nach dem infrage gestellten Wert eines Frauenkörpers, wenn er nicht das leistet, was ihm kulturell und gesellschaftlich als Last auferlegt ist – nämlich: neues Leben in die Welt zu setzen.
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