Buchkritik

Kathrin Röggla – Laufendes Verfahren

Stand
Autor/in
Christoph Schröder

Kathrin Röggla widmet sich in ihrem neuen Roman „Laufendes Verfahren“ dem NSU-Prozess: faktisch grundiert, aber erzählt von einem fiktiven „Wir“-Prozessbeobachter. Ein technisch virtuoser Roman, in dem Röggla der Mechanik des Justizsystems aber leider nicht auf die Spur kommt.

Der NSU-Prozess war eines der größten, aufwendigsten und auch teuersten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Eine knapp 500 Seiten starke Anklageschrift mündete in 438 Verhandlungstage zwischen Mai 2013 und Juli 2018 vor dem Münchener Oberlandesgericht und schließlich in einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. Beteiligt daran waren mehr als 75 Anwälte und Strafverteidiger; als Resultat standen am Ende 1200 prall gefüllte Ordner mit Verfahrensakten.

Ein Roman, der den NSU-Prozess als Kunstwerk fassen will

Das sind nur einige wenige nackte Zahlen. Dahinter standen stets die großen Fragen: Wie konnte es passieren, dass eine neonazistische Gruppe über einen größeren Zeitraum hinweg im gesamten Bundesgebiet insgesamt neun Menschen töten konnte, ohne zuvor aufgespürt zu werden? Hat der Verfassungsschutz die Strafverfolgung möglicherweise behindert? Und was sagt es über dieses Land aus, dass die Mordserie in den Medien den unappetitlichen Namen „Dönermorde“ verpasst bekam, der die überwiegend türkischen Opfer als Täter verdächtigte?

Kathrin Röggla hat den Prozess selbst immer wieder vor Ort verfolgt, stützt sich aber auch auf die in fünf Bänden veröffentlichten, wortwörtlichen Prozessmitschriften, die eine Gruppe von Journalisten zusammengetragen hat. Der NSU-Prozess wurde von Gerichtsreportagen, Kommentaren, Deutungen und Porträts der Beteiligten begleitet und somit umfassend dokumentiert.

Ein Roman, also ein Werk der Fiktion, sollte sich über diese überbordende Informationsfülle hinaus in irgendeiner Form als eigenständiges Kunstwerk legitimieren. Kathrin Röggla lässt daher den Chor, den sie als Erzählstimme angelegt hat, gleich zu Beginn zu einer Erklärung seiner Funktion anheben:

„Wir werden die sein, die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen. Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern.“

Hier sprechen die interessierten Staatsbürger als „Wir“

Dieses „Wir“, das Röggla zumindest in den ersten zwei Dritteln sprechen lässt, ist nicht das einzige, aber vielleicht das grundsätzlichste Problem dieses auf bedauerliche Weise misslungenen Buchs. Das „Wir“ ist zum einen die stellvertretende Stimme für den interessierten Staatsbürger, der Fragen stellt, Abläufe und Motive begreifen und selbstverständlich die Haupttäterin und ihre Helfer bestraft sehen will.

Zum anderen ist das „Wir“ aber auch eine ganz konkrete Gruppe fiktiver Prozessbeobachter, die sich regelmäßig auf der Tribüne des Oberlandesgerichtes zusammenfinden und die anhand ihrer Funktionen benannt sind. Da ist der Gerichtsopa, ein pensionierter Jurist, der immer wieder zu Sachlichkeit aufruft. Da ist die Omagegenrechts, eine politisch engagierte ältere Dame. Da sind der Bloggerklaus und die strenge Yildiz, der je nach Situation und Stimmung in ihrem Namen eine Funktion zugewiesen wird.

Eine multiperspektivische Collage, die an der Komplexität des Prozesses abprallt

Kathrin Rögglas große Stärke ist ihr Talent, einen Sound herzustellen; eine multiperspektivische Collage, in der sie juristische Fachsprache und rhetorische Nebelkerzen mit einem Gewirr aus Eindrücken, Meinungen und Debatten zusammenmontiert. Allein: Diese Suada prallt an der Komplexität des Prozesses ab.

Die Beteiligten – Staatsanwaltschaft, Richter, Angeklagte – bleiben konturlos, schemenhaft und eindimensional. Das Wir beschreibt einzelne Momente des Verfahrens, zoomt sich an Gesichter heran, ist plötzlich auf der Straße vor dem Gebäude inmitten einer Demonstration, um kurz darauf wieder den Finten und Einschüchterungsversuchen der Strafverteidiger zu folgen:

„Man wird Wiederholungsfragen stellen und beanstanden. Suggestivfragen, die dann nachträglich korrigiert oder abgewehrt werden. Aber sie stehen dann natürlich im Raum. Immer wieder wird dasselbe gefragt werden. Und dann wird gesagt, dass das verboten ist. Fragen, bei denen man mitschreiben muss, so schnell kommen sie rausgeschossen. Der Richter wird intervenieren. Sie werden sich allerdings stets vorgeführt vorkommen. Sie verstehen jetzt erst die Rede vom Zeugenbeistand, Sie dachten, Sie bräuchten so was nicht.“

So aufwendig Rögglas Verfahren auch ist, so gering ist der Erkenntniswert. Denn hier geht es ja darum, einen literarischen Blick in die Mechanik des Rechtsstaats zu werfen. Diese Herausforderung hat vor wenigen Jahren Petra Morsbach in ihrem Roman „Justizpalast“ glänzend gemeistert. „Laufendes Verfahren“ hingegen hat sehr viele Anliegen gleichzeitig: Der Berichtspflicht soll genüge getan werden, zugleich läuft untergründig eine Analysespur mit, auch im Hinblick auf die Beobachtungen der Zuschauer.

Die Perspektive auf den Prozess soll nach Möglichkeit neutral sein, doch kann und will das Erzähl-Wir sich – verständlicherweise – der Empathie mit den Opfern und Hinterbliebenen nicht verschließen. Im letzten Drittel des Romans löst Röggla ihren Chor in Einzelperspektiven auf. Es ist die Omagegenrechts, die die Frage nach der persönlichen Haltung des Gerichts aufwirft:

„Sie frage sich, wie man einen Richter daran erinnert, was eigentlich passiert ist? Wie erinnert man einen Senat an das Gewicht des Geschehens, wenn dieses Gewicht sich auf fünf Jahre oder länger verteilt? Nützt es sich ab? Verschwindet es? Wir haben keine Ahnung, und wir verlieren immer mehr den Überblick, je länger das Ganze dauern wird.“

Ein Roman, der den Opfern der NSU-Mordserie gewidmet ist

Der Gerichtsopa hält dagegen, dass mit Partikularinteressen, Einzelmeinungen, persönlicher Trauer und Betroffenheit in einem so komplexen Fall wie diesem kein Staat zu machen sei. Dass Kathrin Röggla ihren Roman den Opfern der Mordserie gewidmet hat, ist so ehrenwert wie kontraproduktiv, weil es dem zu Beginn formulierten Credo der vermeintlichen Neutralität dezidiert widerspricht.

Dass Röggla um diese Aporie weiß und sie benennt, schafft das Problem nicht aus der Welt: Bei aller technischen Virtuosität pendelt „Laufendes Verfahren“ zwischen Erkenntniswillen, Empörung und Betroffenheit, zwischen literarischer Reportage und gesellschaftlicher Diagnose hin und her. Anders gesagt: Das Buch setzt sich zwischen alle Stühle. Und wirft so die Frage auf, warum es überhaupt geschrieben werden musste.

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Christoph Schröder