Am 26. Juli 2023 starb Martin Walser im Alter von 96 Jahren. Wie kein anderer proträtierte er als Dichter vom Bodensee die deutsche Gesellschaft. Sein Werk ist enorm. Preise erhielt er zuhauf. Immer wieder eckte er auch an, wie mit seiner Paulskirchenrede 1998. Bis zuletzt schrieb und publizierte Walser, der zu den großen deutschen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt.
30 Jahre alt war Martin Walser, als 1957 sein erster Roman erschien – ein satirisches Porträt der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Und damit legte er den Grundstein für eine beeindruckende literarische Karriere.
Noch im Erscheinungsjahr bekam Walser für „Ehen in Philippsburg“ den Hermann-Hesse-Preis, und die Jury lobte einstimmig die außergewöhnliche Erzählperspektive, dieses Ausbreiten der Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonisten, diesen Sprachklang, den Walser in seinen späteren Büchern perfektionieren sollte.
Der Roman leuchtete die Heucheleien, das Machtstreben, die Wohlstandsneurosen und Lieblosigkeiten im deutschen Bürgertum aus. Und diese Themen tauchten dann auch in den folgenden Büchern immer wieder auf.
Bodensee-Dichter, ohne provinziell zu sein
Ein Meisterwerk gelang ihm mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“, die 1978 erschienen und in der Walser die deutsche Urlaubsidylle am Bodensee zum Thema machte. In dieser Region kannte er sich aus wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller.
In Wasserburg am Bodensee wurde er 1927 geboren, hier lebte er mit seiner Familie, erst in Friedrichshafen und dann im beschaulichen Nußdorf. Walser war ein Bodensee-Dichter, ohne dabei provinziell zu sein. Er brauchte den alemannischen Sprachraum und das gehobene Milieu der Bodensee-Gesellschaft, um sich inspirieren zu lassen und sich an ihren inneren Widersprüchen abzuarbeiten.
Und Walser schrieb und veröffentlichte am laufenden Band. Ende der 70er, Anfang der 80er-Jahre erschien fast jedes Jahr ein Walser-Buch, manchmal sogar zwei in einem Jahr. Ästhetisch radikale und dann wieder seltsam intime Texte, Romane wie „Seelenarbeit“, „Brandung“ und „Jagd“. Martin Walser war ein Literatur-Berserker und bekam einen Preis nach dem anderen: den Büchner-Preis, den Ricarda-Huch-Preis, die Carl-Zuckmayer-Medaille und so weiter.
Die Paulskirchenrede und der Holocaust
Vielleicht hätte er auch den Literaturnobelpreis bekommen, wenn er nicht immer mal wieder auf seltsam introvertierte Weise öffentliche Debatten losgetreten hätte. Wenn es um deutsche Geschichte und die ritualhafte Erinnerungskultur ging, konnte sich Martin Walser aufregen und in seinem Groll andere verletzen. Und das tat er zum Beispiel bei seiner berüchtigten Paulskirchenrede 1998, in der er eine Instrumentalisierung des Holocaust beklagte.
Es ging ihm, wie er später immer wieder beteuerte, um ein rein subjektives Empfinden. Er habe keineswegs, wie ihm vorgeworfen wurde, rechten Revisionisten Argumente liefern wollen. Der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, mochte dieser Differenzierung nichts abgewinnen und bezeichnete die Rede als geistige Brandstiftung.
Noch schärfer wurde die Diskussion vier Jahre später, nach der Veröffentlichung des Romans „Tod eines Kritikers“. In dem Text karikierte Walser den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Zahlreiche Intellektuelle, Journalisten und Wissenschaftler warfen Walser daraufhin vor, in dem Roman mit antisemitischen Klischees zu spielen.
Viele Jahre später, nämlich im Frühjahr 2015, sagte Martin Walser in einem Interview, er würde die Paulskirchenrede nicht mehr so halten können. Er distanzierte sich von den schärfsten Formulierungen und meinte, es sei schon ein Fehler gewesen, sich überhaupt in die Debatte eingemischt zu haben.
Fabulierlust und Alterswerke
Wer gemeint hatte, dass Walsers literarisches Schaffen nach den zuweilen äußerst polemisch geführten Debatten am Ende sei, wurde eines Besseren belehrt. Der Goethe-Roman „Ein liebender Mann“ wurde vom Publikum wohlwollend aufgenommen, und bei dem 2011 veröffentlichten Roman „Muttersohn“ war auch die Kritik weit gehen begeistert.
Walser hatte ein abgründiges Lebens- und Liebesbuch geschrieben. Er hatte seine Fabulierlust wiederentdeckt, seine alten Themen aufgegriffen und diesen struppigen Reigen mit einem weiteren Motiv ergänzt. Es ging nun auch um den Glauben und die Ewigkeit. Und so sind seine sprachmächtigen Alterswerke genau wie seine frühen Romane moderne Klassiker geworden. Mit Martin Walser ist einer der großen Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur gestorben.
Nachruf „Unermüdlich sein und unersättlich, und undurchschaubar" - Der Jahrhundertschriftsteller Martin Walser ist tot
Er war der große Mann der deutschen Nachkriegsliteratur: Zusammen mit Günter Grass, Siegfried Lenz und Heinrich Böll prägte der Schriftsteller Martin Walser das intellektuelle Bild der Bundesrepublik. 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war ihm schon recht früh klar, dass er nur eines werden wollte: Dichter. Mit seiner kantigen, streitbaren Art mischte er sich immer wieder vom Bodensee in die hohe Politik ein, was nicht selten zu unversöhnlichen Debatten führte. Am 26.7.2023 ist er im Alter von 96 Jahren gestorben, wie der Rowohlt-Verlag bestätigte.