Buchkritik

Richard Cockett – Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand

Stand
Autor/in
Roman Kaiser-Mühlecker

Der Brite Richard Cockett beleuchtet in seinem jüngsten Werk „Stadt der Ideen“, wie die österreichische Hauptstadt zu einem Laboratorium der Moderne wurde.

Die zentrale These klingt zunächst einmal gewagt: Wien habe den „Grundstein für einen Großteil der geistigen und kulturellen Produktion der westlichen Welt im 20. Jahrhundert gelegt“, behaupt Richard Cockett in seinem Buch „Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand.“

Hinreichend bekannt ist die Geschichte der Donaumetropole im „Goldenen Zeitalter“ des Liberalismus, das Wien von Freud, Klimt, Mahler und vielen anderen mit ihren bahnbrechenden intellektuellen und kreativen Leistungen. Weniger bekannt, und darauf legt der Historiker und „Economist“-Journalist Cockett seinen analytischen Schwerpunkt, ist das Wien nach dem Ersten Weltkrieg.  

Zu dieser Zeit wurde Wien von Sozialdemokraten regiert und diese versuchten die Ideen des Goldenen Zeitalters anzuwenden. Es ging um die Verbesserung der Lebensumstände und letzten Endes darum, einen „neuen Menschen“ zu erschaffen, wie sie es nannten.

Weiterführen der Ideen aus dem „Goldenen Zeitalter“ Wiens 

Als ein Beispiel unter vielen nennt Cockett die Verwendung von Erkenntnissen aus der Psychoanalyse im „Roten Wien“. 

Da ging es nicht mehr nur um sehr reiche Patienten, die sich von Freud ihre Träume deuten ließen. Die Sozialdemokraten nahmen die Grundideen von Freud und verwandelten  sie in Mittel für Sexualerziehung, Gesundheitserziehung, für all das, was man heute psychische Gesundheit nennen würde.

Jüdische Impulse für die liberale Moderne 

Träger des liberalen und des Roten Wien waren sehr häufig assimilierte Jüdinnen und Juden, die in Wien seit den Zeiten Franz Josephs ein tolerantes und multikulturelles Klima vorgefunden hatten. Diese Welt wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg von illiberalen Tendenzen bedroht, die sich in Wien stärker zeigten als anderswo.

Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, Antisemit und Populist der ersten Stunde, wurde so etwa zum Lehrmeister des jungen Kunststudenten Adolf Hitler. 

Zweifellos war der Erfolg der assimilierten Wiener Juden ein Schlag ins Gesicht für Hitler und seinesgleichen. Ein Frontalangriff auf ihre nationalistischen, großdeutschen Überzeugungen und ihre Blut-und-Boden-Ideologie.

Die vom Logischen Empirismus geprägte geistige Landschaft Wiens, die unter anderem die moderne Küche oder die erste Studie über Langzeitarbeitslosigkeit hervorbrachte, wurde in den 1930er-Jahren von den Austrofaschisten und später von den Nazis zugrunde gerichtet. Aber jene ihrer Protagonisten, die rechtzeitig aus Österreich fliehen konnten, trugen ihre Ideen und Methoden in die Länder, die sie aufnahmen.  

Die USA profitierten von der Wiener Einwanderung  

Insbesondere die USA profitierten auf zahlreichen Gebieten von der Wiener Einwanderung. Billy Wilder, Fred Zinnemann und Otto Preminger stellten das konservative Hollywood auf den Kopf. Der Architekt Victor Gruen erfand das Einkaufszentrum, weil er sich in der versprengten US-amerikanischen Einkaufslandschaft nicht zurechtfand.

Und eine Gruppe von liberalen Denkern, darunter Karl Popper, lieferte in Form von Büchern die wichtigste ideologische Munition im beginnenden Kalten Krieg. 

Ich denke, der Grund dafür, weshalb sie so wichtig wurden und weshalb ihre Arbeiten vor allem in Großbritannien und den USA rezipiert wurden, ist, dass sie Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus viel früher und aus nächster Nähe erlebt hatten. Nämlich im Wien der 20er- und 30er-Jahre.

Es ist ein ungewohnter, britisch-liberaler Blick, den Cockett auf dieses Stück österreichische Geschichte wirft. Seine originelle und kenntnisreiche Darstellung lässt das erstaunlich lebendige Erbe einer gewaltsam ausgelöschten Welt schillernd zutage treten. 

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Roman Kaiser-Mühlecker