Passt die Lage der Welt in ein Gedicht? Clemens Setz versucht das ein Jahr lang. Im Dezember erscheint bereits das zehnte Gedicht – und es ist Zeit zurückzublicken.
Alle Dinge werden kleiner, wenn man sie zusammensetzt
Bilder des Krieges in der Ukraine erreichen uns täglich, durch die Nachrichten oder durch Filmaufnahmen, die im Internet verbreitet werden. Clemens Setz berühren bizarre Videoclips mit Kriegsszenen und gleichzeitig faszinieren sie ihn auf erschreckende Weise.
In einem Film sieht er einen Soldaten, auf den eine Drohne zufliegt . Die ist mit Sprengstoff und einer Kamera ausgestattet und filmt den Angriff, bevor sie explodiert und den Menschen tötet. In seinem Gedicht konzentriert sich Setz auf die Geste des Soldaten, der abwehrend den Regenschirm hochhebt, bevor er stirbt.
Als Poeta laureatus reflektiert Clemens Setz aktuelle Ereignisse und Begebenheiten, die er oft nicht genau einordnen kann. Die Form des Gedichts ermöglicht ihm, genau diese Verwirrung sichtbar zu machen.
„Es ist ein hilfloses Gedicht. Das beschreibt aber auch sehr gut mein inneres Gefühl, ich bin innerlich vollkommen stumm dabei, ohne Erzählstimme. So, wie ich es erlebe, ist es mehr ein überfordernder Slapstick, und das Einzige, was dann kommt, sind private Assoziationen wie dieser total seltsame Satz über die Dinge, die kleiner werden, wenn man sie zusammensetzt.“
Clemens Setz findet in den Gedichten Worte und Bilder für diese Hilflosigkeit.
Feedbackkultur beim Dichten
In den ersten beiden Gedichten nimmt Clemens Setz auf das aktuelle politische Geschehen im Ukrainekrieg und auf die Klimakatastrophe Bezug. Im dritten Gedicht geht es darum, wie aktuell ein Gedicht sein sollte oder darf – und wie er als Poeta Laureatus seine Probleme hat mit Kritik und Anregungen .
Kaum hat Clemens Setz das Gedicht begonnen, nimmt er den Inhalt schon zurück. Die Schere im Kopf? Die Zurücknahme ist eine rhetorische Spielerei, denn die Zeilen bleiben bestehen, in denen er historische Hinrichtungen beschreibt.
„Ich habe irgendwo auf CNN oder wo geschaut, was passiert in der Welt, und dann war da ein mich total fesselnder Bericht über eine 2000 Jahre lang gleich betriebene Art der brutalen Hinrichtungen. Wie kann das sein, 2000 Jahre, und immer sind es Frauenleichen, was ist da passiert?“
Den Hinweis auf die Hinrichtungen bekam Clemens Setz durch eine aktuelle Nachrichtensendung. Im weiteren Verlauf des Gedichts bezieht er sich auf die historische Figur Kaspar Hauser, der im 19. Jahrhundert als rätselhafter Findling auftauchte, der anscheinend vorher ohne jeden menschlichen Kontakt aufgewachensen war, seine Identität wurde nie geklärt, aber er hatte natürlich eine.
Diese Geschichte beruht auf einer wahren Gegebenheit, die Clemens Setz aufgrund ihrer Symbolkraft fasziniert. Er zeigt dabei mit ironischem Augenzwinkern, dass jeglicher Inhalt in eines seiner Gedichte einfließen kann. Auch formal variiert Setz die Gestalt seiner Texte und spielt mit vielen Mitteln. Oft sind seine lyrischen Texte nah an der Prosa, doch ab und zu verwendet er auch Reime.
„Ich reime eigentlich viel lieber als nicht. Weil es künstlich ist: So spricht man ja nie. Das mag auch damit zu tun haben, dass mein Alltag unwahrscheinlich viel reicher an Reimen geworden ist, seit ich ein Kind habe, nämlich durch die ganzen Kinderlieder, die einem ja wirklich wunderbarste Reimkunststücke vorführen wie zum Beispiel „links sind Bäume, rechts sind Bäume, in der Mitte Zwischenräume“, aus dem Lied „Was müssen das für Berge sein“. Reime sind frech und generell tut mir Frechheit immer gut.“
Mit Goethe gegen Drohnen
Frech und auch mutig erscheint es, wenn Clemens Setz sich in der Überschrift seines fünften Gedichts neben Johann Wolfgang von Goethe stellt. „Ein Gleiches“ nennt Setz seinen Text und lehnt ihn damit bewusst an das berühmte Goethe-Gedicht aus dem Jahr 1780 an, das den gleichen Titel trägt und mit den bekannten Worten anfängt: Über allen Wipfeln ist Ruh. Er will sich jedoch nicht anmaßen, im gleichen literarischen Rang wie Goethe zu stehen, er bezieht sich damit auf die Methode: Die Wahl und Variation seines Themas. In seinem Gedicht entwirft er die utopische Szene eines fiktiven fernen Zeitpunkts, an dem Menschen technisch veraltete Kriegsmaschinen wie gefährdete Tierarten im Zoo bestaunen.
Die Ausmaße dieser zerstörerischen Technik sind für Clemens Setz nicht abzuschätzen und deshalb hochgefährlich. Im Gedicht über die Kampfdrohnen im Zoo findet er als Lyriker eine Möglichkeit, die angsteinflößende Idee überhaupt zu ertragen, indem er sie als eine groteske liebevolle Begegnung inszeniert.
„Es ist vielleicht der einzig mögliche Perspektivenwechsel, wenn man etwas Neues sieht, etwas total Entsetzliches anzuschauen als etwas Rührendes, Nostalgisches, mit persönlicher bittersüßer Poesie Aufgeladenes, das ist ja etwas, das man sonst nie tut. Mein Gefühl ist, dass wir nicht wissen, was wir gebären.“
Im Gedicht hat der Lyriker die Möglichkeit, die Figuren und Ereignisse mit Hilfe poetischer Bilder auf künstlerische Weise zu kommentieren und zu karikieren. Indem er zum Beispiel rechtspopulistische Hetzreden im Netz in einer absurd wirkenden märchenhaften Szenerie ansiedelt, distanziert er sich von ihnen.
Er lässt ihre Verfasser auf diese Weise realitätsfern und naiv wie Märchenfiguren erscheinen. Die Antwort des Dichters auf Gewalt, Krieg und politische Willkür sind seine Gedichte. Allen voran die, die er in seinem Jahr als Poeta Laureatus schreibt.
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Clemens Setz bezeichnet sein viertes Gedicht im Gespräch als „hilflos“. Wie kann das sein? Natürlich kann ein Gedicht keinem überfallenen Staat helfen, natürlich rettet es keine Menschenleben. Clemens Setz stellt Videos in den Mittelpunkt, die im Netz auftauchen: Die letzten Sekunden von Kampfdrohnen, bevor sie explodieren. Zu sehen sind die Menschen, die dabei sterben. Eine neue Qualität bei der medialen Verarbeitung von Kriegen. Als poeta laureatus des literaricums in Lech tastet sich Clemens Setz weiter an sein Ziel heran: Den rasenden Veränderungen der Welt sprachlich gerecht zu werden.
Gespräch und Lesung Gespräch mit Poeta Laureatus Clemens Setz zum fünften Gedicht
„Wir sind der Kokon, aus dem was schlüpfen soll“ – im Gespräch zum fünften Gedicht wagt sich Clemens Setz weit vor: Werden alle Alpträume der Science Fiction wahr? Baut die Menschheit gerade an ihrem Ende?
Und dann wagt sich Clemens Setz noch vor in die Gefilde von Friedrich Klopstock und Ezra Pound, die beide mit der französischen Revolution und mit dem Ende des italienischen Faschismus eigene Formen der Apokalypse im Gedicht verarbeiteten.
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