Buchkritik

Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus

Stand
Autor/in
Max Bauer

Tote Frauen, sexuelle Ausbeutung, eine Gesellschaft ohne Gnade. Der erste Krimi des italienischen Autors Giorgio Scerbanenco zeigt die Schattenseiten des „Dolce Vita“ im Italien der 1960er Jahre.

Giorgio Scerbanenco wurde als Vladimir Serbanenko in der Ukraine geboren. Ende der 1920er Jahre floh er mit seiner italienischen Mutter nach Italien. Dort wurde er zu einem der Begründer des modernen italienischen Krimis.

Bereits mit seinem ersten Buch „Venere privata“ gab er dem Genre einen neuen Dreh. Innovativ wie die Romane ist auch die Comicadaption, die der Zeichner Paolo Bacilieri vorgelegt hat. „Private Venus“ heißt der Band. Ein Comic mit Bildern, die auch abgebrühte Krimi-Leser*innen tief verunsichern können.

Die Krimigeschichte kennt viele ungewöhnliche Ermittlerinnen und Ermittler. Duca Lamberti ist einer besonders ungewöhnlicher.

Auch im Gefängnis hatten ihm die Nachtstunden besonders zu schaffen gemacht. Er war zwar gewappnet, erwartete die Welle von Gedanken und Erinnerungen, aber wenn sie dann über ihn hereinbrach, erschütterte sie ihn doch jedes Mal stärker, als er befürchtet hatte.

Ein Arzt als Detektiv

Duca Lamberti ist kein Kriminalist, sondern Arzt. Das heißt, er war Arzt, denn er hat während seiner Zeit als Klinikarzt einer totkranken, leidenden Patientin auf deren Wunsch eine tödliche Spritze verabreicht. Drei Jahre musste er dafür ins Gefängnis. Seine Zulassung wurde ihm entzogen.

Er hatte alles falsch gemacht. Im Prozess hatten sie ihn gefragt, wie lange Signora Maldrigati gebettelt hatte, bis er einwilligte, ihr die tödliche Spritze zu geben. Er hätte vage bleiben sollen, sich nicht erinnern. Es war falsch gewesen genau zu antworten.

Was treibt ihn an, diesen Arzt ohne Approbation. Es ist schwer zu erraten und die Zeichnungen von Paolo Bacilieri machen es einem nicht leicht. Das Gesicht von Duca Lamberti dominiert den Band, seine großen, mal suchenden, mal entsetzten Augen, die Adlernase, der verdrießliche Mund.

Viele gezeichnete Stimmungswechsel in einem Gesicht. War es reines Mitleid, das ihn zur Sterbehilfe getrieben hat? Oder mehr der Abscheu vor seinen ärztlichen Kollegen, die am Bett der Todkranken gefühllos ihren baldigen Tod vorhersagen?

Ich komme gerade aus dem Gefängnis, habe ein Urteil wegen Mordes auf dem Buckel. Immerhin mildernde Umstände. Hätte man mich heute Morgen hier mit einem Toten gefunden, nach einem feuchtfröhlichen Abend mit zwei leichten Mädchen… Sie ahnen nicht, wie fantasievoll Journalisten, wie argwöhnisch Polizisten sein können. Man hätte den Arzt ohne Zulassung postwendend wieder eingelocht.

Die Krankheit ist die gesellschaftliche Gewalt

Die Story beginnt mit der Entlassung von Duca Lamberti aus dem Gefängnis. Ein befreundeter Kommissar der Mailänder Polizei verschafft ihm einen Job. Er soll auf den erwachsenen Sohn eines Mailänder Unternehmers aufpassen, der ständig trinkt und schon bald einen Selbstmordversuch unternehmen wird. Doch der Arzt und Detektiv Duca Lamberti verbindet nicht nur aufgeschnittene Handgelenke.

Er sucht nach den Ursachen der Krankheit. Und die Krankheit, mit der er es hier zu tun hat, ist keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche. Der Detektiv und Arzt will vordringen zu den tiefen Wurzeln der Gewalt in der italienischen Nachkriegsgesellschaft.

Prostitution verstehen, heißt die Gesellschaft verstehen

Diese Gewalt kommt in dem Band „Private Venus“ vor allem aus den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen. Seine Ermittlungen führen Duca Lamberti bald auf die Spuren eines internationalen Prostitutionsrings.

Entscheidende Hilfe bekommt er von Livia Ussaro. Von einer jungen Frau, die nicht auf den Strich geht, um sich über Wasser zu halten, sondern weil sie Soziologin ist. Sie hat die These: Wer die Prostitution versteht, versteht auch die von Männern dominierte Gesellschaft.

Hören Sie, allgemeine Fragen finde ich wirklich spannend, aber für meine Arbeit brauche ich mehr Details.

Livia bringt Duca Lamberti auf die Spur des Mörders, der zwei ihrer Freundinnen auf dem Gewissen hat. Sie wird der Lockvogel für einen, der gnadenlos mordet, um seine Geschäftsinteressen zu schützen.

Der Mann, den wir suchen, arbeitet ganz anders, auf einem ganz anderen Niveau. Er sucht Mädchen mit einem gewissen Stil. Wahrscheinlich beliefert er erstklassige Edelpuffs in Italien und im Ausland. Genau wie ein Import-Export-Unternehmen.

Zeichnungen, die tief verunsichern

Es ist eine Schattenwelt auf der Rückseite des „Dolce Vita“ im Italien der 1960er Jahre, die der Krimiautor Giorgio Scerbanenco beschrieben hat und die der Comickünstler Paolo Bacilieri jetzt zeichnet. Die Prostituierte und Soziologin Livia durchschaut die Verhältnisse schneller und genauer als die Männer um sie herum. Das hilft ihr nichts.

Alle Männer, auch der ermittelnde Arzt Duca Lamberti benutzen sie für ihre Interessen. Am Ende des Bandes schauen wir unvermittelt in ihr durch Messerschnitte entstelltes Gesicht – weit aufgerissene Augen und ein Schrei, der in dieser kalten Welt schnell verklingen wird.

Dieses Bild ist ein gezeichneter Schockeffekt, aber die Verunsicherung, die dieser Comic erzeugt, ist viel subtiler. Paolo Bacilieri zeichnet das moderne Italien der Nachkriegszeit so, dass man sich in seinen Bildern nie sicher fühlen kann. Große Zeichnungen von Gesichtern und Körpern und Räumen und Straßen werden von kleinen Panels überlagert, die nur Details zeigen – eine fragmentierte Welt.

Und auch die Sprechblasen gehen ständig ineinander über. Ein klares Gespräch in Rede und Gegenrede – unmöglich. Das Sprechen über die Welt – ein großes Durcheinander.

In dieser Welt helfen nur kleine Schritte weiter. Giorgio Scerbanenco hat vier Krimis um den die Gesellschaft untersuchenden Arzt Duca Lamberti geschrieben. Man kann nur hoffen, dass der Zeichner Paolo Bacilieri sie alle zu Papier bringen wird. Schritt für Schritt.

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