Buchkritik

Carlo Levi – Die doppelte Nacht

Stand
Autor/in
Eberhard Falcke

München, Augsburg, Tübingen und das geteilte Berlin gehörten zu den Reisestationen von Carlo Levi. Er wanderte durch die Straßen, besuchte Museen und lauschte in Bierkellern dem Volksmund. In seinem Buch „Die doppelte Nacht" berichtet er über ein Land voller Fragen und verdrängter Erschütterungen.

Seine ersten Eindrücke von Nachkriegsdeutschland sammelte Carlo Levi in München, wo er mit einer vorweihnachtlich geschmückten Lufthansa-Maschine aus Rom gelandet war. Sein Hauptinteresse galt der Kunst, der Architektur, den noch immer von Bombenschäden gezeichneten Stadtbildern und vor allem den Menschen. „Es gibt keine Monster", flüsterte ihm ein junger Franzose beim Bier zu. Tatsächlich erkannte Levi in den Straßenpassanten vorwiegend „leutselige, einfache, wohlhabende" Bürger, denen ihre Vergangenheit als Untertanen einer bösartigen Diktatur nicht mehr anzusehen war. Er fragte sich: 

Wo in diesem selbstzufriedenen Bildungsbürgertum verstecken sich die Ungeheuer? Vielleicht bräuchte es gar nicht viel, sie wieder zu entdecken. Oder entsprachen diese Farblosigkeit und Niedergeschlagenheit ohne jegliche Grandezza auch damals schon der Wahrheit? 

Deutschland versteckt sich 

Anders als frühere Deutschlandbesucher registrierte Levi weder deutsches Selbstmitleid noch Schuldabwehr und Verdrängung. Stattdessen beobachtete er eine „hohle Stille aus Fragen und Erschütterung". In ihrer beklemmendsten Form begegnete ihm diese Atmosphäre bei einem spontanen Besuch im KZ Dachau, wo die tyrannische Grausamkeit der Nazizeit nun durch das Elend der dort einquartierten Vertriebenen überdeckt wurde. Aus solchen Eindrücken zog Levi die Schlussfolgerung: „Deutschland versteckt sich". 

Streifzüge durch Bierkeller und Museen 

In seinem kenntnisreichen Nachwort zu dem Reisebuch, dessen Titel „Die doppelte Nacht" auf Goethes Faust anspielt, betont der Historiker Bernd Roeck, dass Levi über seine Beobachtungen mit dem Blick des Malers, der er auch war, berichtet hat. Insofern passen die dunklen Schattierungen der winterlichen Szenerien, die der Autor oft zu eindringlichen Tableaus ausmalt, symbolisch sehr gut zu der zwiespältigen Verfassung, die er bei den Deutschen feststellte.  

In einem essayistischen Vorwort umkreist Levi die deutschen Befindlichkeiten mit etlichen klugen, mehr oder weniger geläufigen Erklärungsversuchen. Viel anschaulicher und weniger spekulativ fallen jedoch seine anekdotischen Wahrnehmungen aus, bei denen er sich primär auf unmittelbare Erlebnisse stützte. Über die intellektuellen Debatten im Lande hingegen ließ er praktisch nichts verlauten. Lieber tauchte er mit offenem Ohr und wachen Sinnen ein ins Nachtleben der Kneipen und Bierkeller. Dort widmete er dem Volksmund ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Alten Meistern in den Museen. 

Den Höhepunkt der Reise bildete nach Augsburg, Tübingen oder Stuttgart, die vor allem kunsthistorisch in Erinnerung blieben, der Aufenthalt in Berlin. Dort begegnete der Reisende dem Zwielicht deutscher Schattenwelten und den Existenzfragen des geteilten Landes in geballter Form.  

Eine Stadt, zwei Welten 

Viele Male pendelte er zwischen West und Ost, zwischen Kudamm und Stalinallee, Stripteasebars und Pergamonaltar hin und her. 

Diese halbierten Welten beäugen einander finster, sie stehen einander wie zwei Vertreter unterschiedlicher Zivilisationen gegenüber. Und doch sind sie aus demselben Holz geschnitzt.

Carlo Levi zeigt sich hier als ein ebenso guter Beobachter wie inspirierter Denker. Seine Ausführungen wirken nach wie vor lebendig und anregend. Darum ist die Deutschlandreise, die sich mit seinem Buch „Die doppelte Nacht" nachvollziehen lässt, auch von heute aus gesehen nicht viel weniger spannend als damals.  

Stand
Autor/in
Eberhard Falcke