Lesbische Liebe statt Hosenrolle

Geschickte Aktualisierung: Rossinis „Tancredi“ bei den Bregenzer Festspielen

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Karsten Umlauf
Karsten Umlauf

Von Gioacchino Rossini kennt man den „Barbier von Sevilla“, „Guillaume Tell“ vielleicht oder „Cenerentola“. Dass er auch ernste Opern geschrieben hat, ist den meisten nicht bekannt. Doch mit „Tancredi“ feierte er als 20-Jähriger in Venedig Erfolge. Das Stück wird selten inszeniert, die Handlung ist relativ kompliziert. Die Inszenierung im Bregenzer Festspielhaus versetzt das Geschehen nach Südamerika, in einen Krieg von Drogenbanden.

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Aus verfeindeten Rittergruppen werden rivalisierende Drogenkartelle

Frauen in Männerkleidern: Eine Oper mit einer sogenannten Hosenrolle ist automatisch eine Travestieshow. Komponiert hat man das im 19. Jahrhundert vor allem gerne, wenn man Teenager darstellen wollte oder im Rückgriff auf die stimmliche Tradition der Opera Seria, bei der ganz früher noch Kastraten auf der Bühne standen. So ist das auch bei Rossinis „Tancredi“: eine Männerrolle, gesungen von einer Frau.

Die Story ist heute schwer nachvollziehbar: Eine heimliche Liebesgeschichte unter verfeindeten Rittergruppen im 11. Jahrhundert.

Regisseur Jan Philipp Gloger hat das in einer geschickten Aktualisierung anders gelöst: Bei ihm ist Tancredi tatsächlich eine Frau, die sich allerdings als Mann tarnt, weil sie ihre Liebe zu Amenaìde kaschieren will. Und die ist hier die Tochter eines Drogenbarons. Ein lesbisches Paar und das nicht unter Rittern, sondern bei rivalisierenden Drogenkartellen irgendwo zwischen Italien und Kolumbien, eine rigide Machogesellschaft, in der diese Liebe keine Chance hat. 

Fotoprobe von "Tancredi"
Gelungene Aktualisierung der Rossini-Oper: Regisseur Jan Philipp Gloger inszeniert „Tancredi“ bei den Bregenzer Festspielen 2024 als Drama um eine lesbische Liebe.

Wie eine One-Shot-Kamerafahrt ohne Schnitt

Die Bühne wird dominiert von einer großen Villa, ein Haus mit seitlichen Rundbögen und Durchgängen. Und weil sich die Bühne immer wieder wie ein Kuchenteller dreht und Menschen in verschiedenen Räumen gleichzeitig agieren, entstehen interessante Perspektiven, teilweise wie eine One-Shot-Kamerafahrt ohne Schnitt: Durchblicke zur Küche, in das Schlafzimmer von Amenaide oder in eine Art Folterkammer, in der zwischenzeitlich auch mal blutige Leichen landen.

Die Drogenclans verbrüdern sich gegen die Polizei, Amenaìde soll den Chef der anderen Gang heiraten. Ein Liebesbrief an Tancredi wird abgefangen. Aber statt ihre Beziehung offen zu legen, begibt sie sich lieber unter den Verdacht des Hochverrats. Es kommt zu Missverständnissen und einem Urteil, das die Familie fast zerreißt.

Proben der Oper "Tancredi" für die Bregenzer Festspiele
Interessante Perspektivwechsel, auch beim Szenenbild: Die Bühne dreht sich wie ein Kuchenteller, wodurch sich spannende Ein- und Durchblicke ergeben.

Vieles wurde hier passend gemacht – warum auch nicht?

Realismus funktioniert in der Oper nur bis zu einem gewissen Grad. Wegen die Ungereimtheiten des Librettos wurde hier vieles passend gemacht. Warum auch nicht? Figuren gestrichen, andere umfunktioniert, Pronomen im Libretto verändert. Die Chorszenen mit den Mafiagruppen in 1980er-Jahre-Retroklamotten sind toll choreografiert.

Zwischen leicht und schwer, tragisch oder gelöst ist es bei Rossinis Musik oft nur ein schmaler Grat: Das Vorurteil, dass seine Musik immer ein bisschen ähnlich klingt, ist auch hier nicht von der Hand zu weisen.

"Tancredi" - die Oper über Liebe, Vertrauen und die Unmöglichkeit, in Krisenzeiten glücklich zu werden
Kraftvoller Mezzo und eine entwaffnende szenische Präsenz: Anna Goryachova überzeugt als Tancredi.

Aktuelle Zuspitzung tut Rossinis Jugendwerk gut

Aber Dirigentin Yi-Chen Lin und die Wiener Symphoniker werfen sich mit Fleiß in die abwechslungsreichen Details der Oper. Und die Musik nimmt einen emotional mit, vor allem, weil sie mit Leben gefüllt wird von zwei fulminanten Sängerinnen: Melissa Petit als Amenaìde mit feingliedrigen und geradezu funkeinsprühenden Koloraturen und Anna Goryachova als Tancredi mit kraftvollem, aber nicht weniger lebendigem Mezzo und vor allem auch einer entwaffnenden szenischen Präsenz.

Statt eines Eifersuchtsdramas drückt die Oper am Ende das Verzweifeln an einer Welt aus, in der die Liebe zweier Frauen zueinander nicht lebbar ist. Rossinis Jugendstück wird das wohl nicht aus der Repertoirereserve locken, aber der Oper tut diese Form von gegenwärtiger Zuspitzung auf jeden Fall gut.

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