Wichtigster deutscher Theaterpreis

Diese Inszenierung geht unter die Haut: „All das Schöne“ am Jungen Ensemble Stuttgart mit dem „Faust“ geehrt

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Autor/in
Silke Arning

Das Junge Ensemble Stuttgart hat ein sensibles Thema aufgegriffen und brillant inszeniert: In „All das Schöne“ erzählt ein Sohn davon, wie er mit einer Mutter aufwächst, die an Depressionen leidet und mehrmals versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Die berührende Inszenierung von Frederic Lilje wurde mit dem Deutschen Theaterpreis „Faust“ ausgezeichnet.

Eine klassische Bühne gibt es nicht

Die Bühne ist der Ort, an dem sich eine Aufführung ereignet, heißt es bei Wikipedia. Eine Definition, die für das Stück „All das Schöne“ am Jungen Ensemble Stuttgart nicht zu passen scheint.

Eine klassische Bühne gibt es nicht und gefühlt auch keine klassische Aufführung. Frederic Lilje hat für seine Inszenierung einen kokonartigen Raum geschaffen: eine Art Zelt, das aus zarten, transparenten Vorhangstreifen besteht. Das macht seine Version von „All das Schöne“ so besonders.

Intensive Begegnungen unter dem Kokon

So sitzen alle im Kreisrund beieinander. Vielleicht 50 Zuschauerinnen und Zuschauer, die in der nächsten Stunde Teil der Geschichte werden. Genau davon, von dieser „Intensität“, von der „Kompliz:innenschaft des Publikums“ zeigte sich die Jury des Deutschen Theaterpreises „Faust“ so beeindruckt.

Und von Schauspieler Maximilian Schaible, der ganz nahe kommt, der zum Freund wird, uns sein trauriges Geheimnis anvertraut. Er berichtet von den drei Versuchen seiner Mutter, sich das Leben zu nehmen.

Die Selbstmordversuche der Mutter

Als die Mutter beim ersten Mal bei einer Überdosis Tabletten ins Krankenhaus kommt, ist der Junge gerade sieben Jahre alt. Seine Reaktion: er beginnt eine Liste anzulegen mit all dem Schönen, was die Welt aus seiner Sicht zu bieten hat: Zitroneneis, Wasserschlachten, Überraschungseier, Spaghetti essen.

Das Aufzählen der Liste übernimmt das Publikum und immer wieder bittet Maximilian Schaible jemanden aus der Runde, selbst eine Rolle auszufüllen: der Vater des Jungen zu sein, seine Lehrerin, seine Freundin.

Kleine Gespräche zwischen Publikum und Schauspieler

Daher gleiche keine Vorstellung der anderen: „Es gibt Leute, die gehen direkt mit mir auf eine Spielebene, die denken sich eine Figur aus und ändern vielleicht auch die Stimme“, sagt der Schauspieler.

Maximilian Schaible (links) und Frederic Lilje
Keine Vorstellung gleiche der anderen, sagt Maximilian Schaible (links), der in Frederic Liljes (rechts) Inszenierung die Hauptrolle spielt.

„Und es gibt Leute, die nehmen das sehr momenthaft und sprechen mit mir, so wie sie mit jemandem auf der Straße sprechen würden. Das verändert meine Rolle immer. Das schafft eine kurze Beziehung in diesen paar Minuten.“

Eine Inszenierung, die unter die Haut geht

Der geschützte Raum, die kleinen Gespräche, die Blickwechsel im Publikum, das Zusammenkauern – schnell kann man vergessen, dass es hier noch um Theater geht, so dicht, so tief ist das Erlebnis dieser Inszenierung, die unter die Haut gehen kann.  

„Ich erinnere mich an eine Person, die eine Figur übernommen hat und die so angefasst war von dieser Figur. Sie musste so weinen, dass ihre Freundin, die nebendran saß, den Text vorgelesen hat, sagt Frederic Lilje. „Das hat natürlich einen großen Effekt auf den Raum, wenn jemand so reagiert auf diese Situation.“

"All das Schöne" am Jungen Ensemble Stuttgart
„All das Schöne“ am Jungen Ensemble Stuttgart

Ein schwieriges Thema behutsam umgesetzt

Für solche und andere Situationen hat sich das Junge Ensemble Stuttgart vorbereitet. Wem das Stück zu nahe rückt, der kann sich unauffällig durch den Vorhang aus dem Spiel zurückziehen.

Es gibt Raum für Gespräche rund um das Stück. Niemand bleibt mit seinen vielleicht überraschenden Emotionen allein. Zusätzlich haben sich die beiden Theatermacher Rat bei professionellen Suizidpräventionsstellen geholt, das Stück noch einmal sorgfältig auf Sprache und Jugendtauglichkeit abgeklopft.

Ein schwieriges Thema behutsam, empathisch und nachhaltig umgesetzt – das verlangt Respekt ab. „All das Schöne“ – die Inszenierung am JES ist absolut preiswürdig. 

Was macht das Leben lebenswert? Tief berührender Theaterabend – In „All das Schöne“ suchen Schauspieler und Publikum nach dem Sinn des Lebens

Was macht das Leben lebenswert? Ein kleiner Junge schreibt darüber eine Liste, nachdem seine Mutter das erste Mal versucht, sich das Leben zu nehmen.

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Silke Arning