Buchkritik

Judith Schalansky – Schwankende Kanarien

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Judith Schalanskys poetischer und kritischer Essay „Schwankende Kanarien“ handelt von realen und metaphorischen Alarmsignalen, von der drohenden Umweltkatastrophe und den Möglichkeiten der Literatur, selbst zu einem Frühwarnsystem zu werden.

Der Kanarienvogel als Frühwarnsystem

Der schottische Physiologe John Scott Haldane untersuchte in den 1890er Jahren Grubenunglücke in britischen Bergwerken, denen zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Der Wissenschaftler fand heraus, dass die meisten von ihnen nicht an Sauerstoffmangel oder an den Folgen unterirdischer Explosionen starben, sondern an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung. Das ist besonders heimtückisch, denn man kann das Gas weder riechen noch schmecken. Atmet man es ein, führt das in ein bis zwei Stunden zum Tod.

Kleinere Säugetiere allerdings erliegen der Vergiftung schon früher, und besonders Kanarienvögel schienen Haldane als Frühwarnsysteme geeignet: Wenn ihr Gesang aufhört und sie von der Stange kippen, bleiben dem Menschen noch zwanzig Minuten, sich in Sicherheit zu bringen. Über lange Zeit wurden Kanarienvögel zu treuen Begleitern der Bergmänner, zu Lebensrettern und geliebten Gefährten. Heute sind die Kanarienvögel im Bergwerk durch elektronische und chemische Geräte ersetzt. Aber:

„Wie so oft überwintert Ausgemustertes im Paralleluniversum der Sprache. In ihr leben die Bergwerkskanarien fort, geistern als Unheil verkündende Miniaturkassandras durch Nachrichten, als handliche, gefiederte Orakel, denen es im Angesicht der Katastrophe die Stimme verschlägt und die an jenem prekären Punkt, der über Leben und Tod entscheidet, effektvoll von der Stange fallen.“

Der Moment vor der Katastrophe

„Canary in the coalmine“ ist im Englischen eine stehende Redewendung, kryptisch und schillernd, wie Judith Schalansky in ihrem Essay „Schwankende Kanarien“ bemerkt. Wenn das Vöglein zu singen aufhört, weiß man, was die Stunde geschlagen hat – fünf vor zwölf. Es sind jene Umschlagmomente, „tipping points“, denen Schalansky in ihrem furios vielschichtigen, tiefschürfenden Text nahekommen will – die kritischen Augenblicke, in denen die Katastrophe bereits aufscheint, aber noch nicht eingetreten ist. Kipppunkte nennt die Wissenschaft jene Momente…

„… in denen sich Umweltbedingungen so weitreichend verändern, dass Situationen zum Kippen kommen, etwa Ökosysteme so massiv geschwächt, beeinträchtigt, gestresst oder auch Populationen einzelner Arten so stark dezimiert werden, dass sie sich davon nicht mehr erholen – sondern kollabieren, eben kippen, (…)“

Dann geht ein tipping point über in einen point of no return – das System lässt sich nicht mehr stabilisieren, es wird eine Kettenreaktion ausgelöst, die nicht mehr kontrollierbar ist. Das Problem: Meist erst retrospektiv lässt sich feststellen, wann dieser Kipppunkt erreicht wurde. Und die Frühwarnsysteme, die schwankenden Kanarien, werden häufig nicht beachtet. Die Metapher vom Kanarienvogel in der Mine wird zwar benutzt, ist aber stumpf und wirkungslos geworden, eine Worthülse, die gut gemeinte Appelle schmückt.

Es genügt nicht, die Zeichen zu sehen

Judith Schalansky fragt in ihrem Text, ob nicht die Literatur selbst ein solcher „canary in the coalmine“ ist oder sein sollte, welche Rolle Autorinnen und Autoren spielen könnten angesichts der ernüchternden Erkenntnis, dass die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen entweder verdrängt, ignoriert, als ideologische Schwarzmalerei abgetan wird – oder einfach keine konsequenten Gegenmaßnahmen provoziert.

„‘Die bedeutendste Herausforderung unserer Tage‘, las ich mit leisem Grauen, ‚ist nicht der Klimawandel, der Verlust an Biodiversität oder Pandemien‘, so [der Club of Rome in seinem neuesten Bericht], nein, ‚das bedeutendste Problem sei unsere kollektive Unfähigkeit, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden‘.“

Es geht um Sprache, um eine Form des Erzählens, eine Erzählung, die zählt, auf die gezählt werden könnte, die nicht verschleiert und nicht beschönigt und auf der Grundlage des Unhintergehbaren mit ihren Mitteln wahrhaftig bleibt.

Ein Text voller Ambivalenzen

Judith Schalanskys Essay bietet weder Antworten noch zeigt er eindeutige Wege auf, wie eine solche Erzählung aussehen könnte. Ihm wohnt durchaus eine leise Verzweiflung inne, er hat selbst etwas Schwankendes, weil er um alle Dilemmata und Vergeblichkeit weiß, um die Ambivalenzen von Bildern und Gegebenheiten – der Bergbau steht da nur exemplarisch als eine große Fortschrittsgeschichte und als folgenreiche „Vergewaltigung“ der Erde.

Die kunstvolle Machart des Textes, die virtuose Verknüpfung historischer, wissenschaftlicher, literarischer Fundstücke auf engstem Raum, seine Sprache und Originalität sind bewundernswert, und erzeugen gleichzeitig eine Verstörung. Die Verhaltensbiologie nennt, schreibt Schalansky, den Vogelsang fast poetisch „Stimmfühlungslaut“. Auch beim Menschen ist es verbreitet…

„(…) mit Lautäußerungen die Umwelt – und auch ein Stück weit sich selbst – davon zu überzeugen, dass es einen noch gibt. Ein Pfeifen im Walde, Selbstvergewisserung und Abwehrzauber zugleich.“

Auch die Literatur, könnte man hinzufügen, ist ein Pfeifen im Wald. Ein unverzichtbares.

Wo Gefahr ist, darf die Literatur nicht schweigen

Für ihren Essay wurde Judith Schalansky mit dem Wortmeldungen-Preis ausgezeichnet, der kritische, auf die Fragen unserer Zeit Bezug nehmende Kurztexte würdigt. Die Jury sah in „Schwankende Kanarien“ nicht nur einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Alarms, sondern selbst ein „Medium der Agitation“. Wo Gefahr sei, dürfe die Literatur nicht schweigen.

In diesem Sinne ist Schalanskys essayistische Auseinandersetzung mit dem Klimawandel tatsächlich ein Stück engagierte Literatur, aber weder Agitation noch Ratgeber. Eher ein Lebenszeichen. Ein Mutmacher. Ein sehr leiser, behutsamer Versuch auszuloten, wie literarische Texte ein Bewusstsein für den Schlamassel wecken könnten, in dem die Menschheit unterzugehen droht.

„Der Kanarienvogel, das war ich, und er versicherte mich, dass ich noch da war, in einer Gegenwart, deren prekärer Zustand nicht nur durch Wissenschaft benannt, sondern durch die Kunst erfahrbar gemacht werden konnte, einer Welt voller Midpoints, X-Faktoren und verstörender Schönheit, einem Geflecht einander auf Gedeih und Verderb bedingenden Lebens.“

In seiner Laudatio auf Judith Schalansky spricht der Literaturwissenschaftler Philip Theisohn von einem „erzählerischen Trotzdem“. Das trifft es gut. Zu wissen, wie verloren die Lage ist, und dennoch die Dinge der Welt erzählen, zusammensammeln, neu zusammenfügen. Daraus erwächst noch keine Rettung, aber vielleicht eine andere Sicht aufs Rettende.

Literatur Judith Schalansky: Zeitalter der Smartphones erfordert genaue Beschreibung der Welt

Die Schriftstellerin Judith Schalansky ist Gastdozentin bei der Tübinger Poetikdozentur. „Mich interessieren die Lücken in der Überlieferung“, so die Schriftstellerin in SWR2.

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Ulrich Rüdenauer