Buchkritik

Dorothy Thompson – Ich traf Hitler!

Stand
Autor/in
Holger Heimann

Die US-amerikanische Journalistin Dorothy Thompson hat im Dezember 1931 Adolf Hitler getroffen. In ihrer berühmt gewordenen Reportage porträtiert sie ihn als Verkörperung des „Kleinen Mannes“. Sie geht seiner ungeheuren Wirkung nach und ergründet dabei zugleich die Psychologie einer Gemeinschaft von vermeintlich Zukurzgekommenen.

Adolf Hitler liebte den großen Auftritt. Er sprach mit Vorliebe auf Versammlungen und zu riesigen Menschenmengen. Interviews schätzte er weniger. In der unmittelbaren Gesprächssituation mit einem Einzelnen als Gegenüber verblasste seine geradezu hypnotische Wirkung. Trotzdem hat Hitler im Verlauf seines politischen Lebens der ausländischen Presse mehr als hundert Interviews gegeben. Er wollte auch international Unterstützer erreichen und Anhänger gewinnen. Und die Reporter standen Schlange, um mit dem mächtigen Mann zu sprechen.

Die US-amerikanische Journalistin Dorothy Thompson traf Hitler im Dezember 1931 in Berlin und brachte im Frühjahr 1932 eine bebilderte Reportage heraus, die Furore machte und zu ihrer Ausweisung aus Deutschland führte. Sie beginnt so:

Als ich Adolf Hitlers Zimmer betrat, war ich der festen Überzeugung, dem künftigen Diktator von Deutschland zu begegnen. Keine fünfzig Sekunden später war ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall war. So lange dauerte es in etwa, um die verblüffende Bedeutungslosigkeit dieses Mannes zu ermessen, der die Welt in Atem hielt.

Das erwies sich als verblüffende Fehleinschätzung. Thompson war allerdings bei Weitem nicht die Einzige, die Hitler unterschätzte. Und das ist verständlich. In seinen Reden beschimpfte Hitler die Regierenden maßlos und redete den Unzufriedenen unbekümmert um Widersprüche nach dem Mund. Konkrete Vorschläge, was gegen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit zu tun sei, machte er nicht.

Kurt Tucholsky sprach für viele, als er schrieb: „Den Mann gibt es gar nicht; er ist nur der Lärm, den er verursacht.“ Dass sich Hitler nach 1933 als tatkräftiger Politiker erwies, war nicht abzusehen. Worin aber, so darf man fragen, liegt dann der Erkenntniswert des Interviews von Thompson? Lohnt es sich, die Reportage zu lesen, die nun erstmals vollständig auf Deutsch erschienen ist? Ist der Text mehr als ein historisches Dokument? Die Antwort lautet: ja. Denn Thompson bleibt nicht dabei stehen, Hitler als höchst unscheinbaren, unsicheren Menschen zu charakterisieren.

Was also hat es mit diesem Mann auf sich, dass ein ganzes Land sich zu ihm hingezogen fühlt? Welche Ideen sind es, die aus Millionen von Deutschen Hitleristen gemacht haben? Ich sah in ihm den Kleinen Mann. Aber vielleicht liegt darin, und gerade darin, das Geheimnis seines enormen Erfolges.

Hitlers Lebensluft ist die Krise. Die wirtschaftliche Not ist es, die ihm zwischen 1930 und 1933 die Menschen zutreibt. Sie spüren, so Thompson, „den Druck von heute und die Unsicherheit von morgen“. Adolf Hitler selbst war ein Absteiger und Versager, bevor er zu dem Mann wurde, um den sich die gesamte Weltpolitik drehte. Thompson sieht vor allem die aufgeblasene Durchschnittlichkeit, sie unterschätzt Hitlers Potenzial fundamental und überschätzt die Macht und das Geschick seiner politischen Gegner.

Sie zeigt jedoch überzeugend, wie und warum Hitler mit seiner dämagogischen Rhetorik so erfolgreich war. Er bestätigte die Vorurteile seiner Zuhörer und versprach, Deutschland zu alter Größe zu führen. Dorothy Thompson Buch ist deshalb, wie der Herausgeber Oliver Lubrich in seinem Nachwort richtig bemerkt „eine Studie in politischer Psychologie“. Thompson schreibt:

Patriotismus ist die einfachste Form der Selbsterhöhung. Wenn man verschuldet ist, im Leben keinen Erfolg hatte – so gehört man dennoch, wie Hitler sagt, zur RASSE. „Was nicht der Rasse angehört, ist minderwertig!“ lautet eine seiner Parolen. Die Deutschen sind eine überlegene Rasse, und die Vorsehung will, dass diese überlegene Rasse die Welt erobert. ... Die Welt gehört dem nordischen Menschen – mit anderen Worten, Euch! So spricht er zu seinem heruntergekommenen Publikum. Wundert es Sie, dass ihm Millionen folgen? Wenn sie ihm zuhören, fühlen sie sich emporgehoben. Bessere Zeiten brechen an. Gleich hinter der nächsten Ecke wartet das Zeitalter der Rasse, in dem alle guten Teutonen, allein durch die Tatsache, dass sie Teutonen sind, zu ihrem Recht kommen werden.

Dass Thompsons Begegnung mit Hitler, die sie erst in Zeitungsartikeln und schließlich in einem Buch beschrieb, solche Aufmerksamkeit erlangte und die Journalistin selbst zu einer Berühmtheit wurde, dafür sorgten die Nationalsozialisten selbst. 1934 wurde die Amerikanerin ausgewiesen. In dem Text „Abschied von Deutschland“, der die Buchausgabe komplettiert, erzählt sie davon. Die so elegant wie prägnant formulierende Reporterin beschäftigte die Nazis auch weiterhin.

Goebbels notierte 1942 in seinem Tagebuch: „Es ist beschämend und aufreizend, dass so dumme Frauenzimmer, deren Gehirn nur aus Stroh bestehen kann, das Recht haben, gegen eine geschichtliche Größe wie den Führer überhaupt das Wort zu ergreifen.“ Dorothy Thompson schrieb weiter gegen die Nazis an. Aber so wirkungsvoll wie in ihrer Bild-Reportage „Ich traf Hitler“ gelang ihr das nie wieder. 

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Holger Heimann