Buch der Woche

Stefanie de Velasco - Kein Teil der Welt

Stand
Autor/in
Brigitte Neumann

Im Mittelpunkt des Romans steht die 17-jährige Esther, die kurz nach der Wende in ein ostdeutsches Dorf kommt, wo ihre Eltern als Missionare für die Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus ziehen. 

Unter dem Einfluss ihrer besten Freundin Sulamith kommen Esther immer größere Zweifel an der Glaubensgemeinschaft und deren strenge Regeln. Schließlich stößt sie auch noch auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis.

Mit großer poetischer Kraft erzählt Stefanie de Valesco vom Leben in einem rigiden Glaubenssystem und einem schmerzhaften Emanzipationsprozess, der am Ende alle Fundamente zum Einsturz bringt.

Der Erstlingsroman wurde stark kritisiert

Hatte das an Herrndorfs Roman "Tschick" angelehnte Romandebüt Stefanie de Velascos mit dem Titel "Tigermilch“ noch etliche skeptische Besprechungen kassiert, so beweist die 42-Jährige in ihrem zweiten Roman, dass sie einen eigenen Ton, eine eigene Agenda hat.

Es geht da um die Zeugen Jehovas, die in Deutschland staatlicherseits den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts haben. Eine Anerkennung, wie sie auch anderen Religionsgemeinschaften zuteil wurde.

Acht Millionen Menschen weltweit gehören zu den Zeugen Jehovas

Oliver Pocher, Michael Jackson und Prince waren einmal Mitglieder der Zeugen Jehovas. Acht Millionen zählt die Glaubensgemeinschaft weltweit. Am bekanntesten dürfte ihre Prophezeiung sein, bald werde die Welt untergehen.

Schon der Gründer der Zeugen Jehovas verkündete 1881, der Endkampf zwischen Gott und Satan stehe kurz bevor. So ist der Stand bis heute.

Die Zeugen Jehovas sind alles andere als harmlos

Ein Roman über das Alltagsleben bei einer Gruppe Zeugen Jehovas, das von zwei revoltierenden Töchtern aufgemischt wird: Das klingt vielleicht erst einmal wenig verlockend.

Denn viele von uns werden die Zeugen Jehovas als bieder gekleidete Menschen kennen, die eisern lächelnd bei jedem Wetter vor dem Bahnhof stehen und ihre Wachturm-Hefte anbieten – mit einem Wort, sie wirken harmlos.

Aber das ist ein Trugschluss. Stefanie de Velascos Roman heißt "Kein Teil der Welt" und zitiert damit das offizielle Credo der Zeugen Jehovas. Sie glauben, sie stünden, wie sie sich ausdrücken, "in der Wahrheit".

Täglich droht der Weltuntergang

Die anderen, die Ungläubigen, lebten in der Welt. Diese sei dem Untergang geweiht. Wenn es so weit sei, komme Jesus – Jehova – mit seinen Gesalbten – den Zeugen Jehovas – und töte jeden Ungläubigen, denn die lebten im Banne Satans.

Der Weltuntergang, das Harmagedon, droht täglich. Das klingt ganz und gar nicht harmlos, weder für die verteufelten Weltlichen noch für die Mitglieder der Religionsgemeinschaft.

Protagonistin Esther tut als Kind alles dafür, um ins Paradies zu kommen

In "Kein Teil der Welt" stellt Stephanie de Velasco die 17-jährige Esther in den Mittelpunkt. Sie erzählt in Rückblicken, wie sie bei den Zeugen Jehovas aufwuchs und als Kind alles dafür tat, ins Paradies zu kommen.

„Heimlich fragte ich mich, wer Harmagedon überleben würde und wer nicht. Eins war klar, ein bisschen Predigtdienst und Gebete würden nicht reichen. Wir alle mussten Jehova beweisen, dass wir es wert waren. (…) Alles, was wir taten, alles, was wir dachten, floss wie in der Schule in eine Art Endnote in die Bewertung unseres Lebens ein und entschied darüber, ob wir es wert waren, im Paradies zu leben oder nicht.“

Autorin Stefanie de Velasco wuchs selbst bei den Zeugen Jehovas auf

Die heute 41-jährige Stefanie de Velasco, die selbst bei den Zeugen Jehovas aufwuchs und mit 15 ausstieg, hat keine Abrechnung geschrieben.

Der Roman "Kein Teil der Welt" ist die Chronik eines Ausbruchs, vorbereitet durch viele kleine Schritte der Enttäuschung und Entfernung von den Eltern. Mit dem Ergebnis: Die Harmlosigkeit ist Fassade, die Lehre ein Wahn, die Organisation eine Unterdrückungsmaschinerie.

Autorin Stefanie de Velasco
Autorin Stefanie de Velasco

Die Zeugen Jehovas sind ein Paradebeispiel für rigide Systeme

Aber zum Glück geht es um mehr als die Zeugen Jehovas. Die stehen nur beispielhaft für rigide Systeme überhaupt. Solche, die nach innen Gehorsam, Unterwerfung und Selbstaufgabe verlangen und sich gegen die Außenwelt weitgehend abschotten. Davon gibt es viele.

Was die Autorin in ihrer Religionsgemeinschaft beobachtet, trifft auch auf patriarchale Groß- und Kleinfamilien zu, auf radikale Parteien, auf Religionen mit totalitärer Struktur.

Denn es geht im weitesten Sinne um eine erzwungene Verzwergung der Perspektive aufs Leben, eine Perspektive, die nur noch aus Polaritäten bestehen darf. Gut und Böse, Gott und Satan, Reinheit und Schmutz. Der Schmutz ist bei den anderen. Die Reinheit ist beim Gläubigen.

Die Welt der Ungläubigen ist nach Esthers Vater wurmstichig

Der Vater Esthers erklärt seiner Tochter, bei denen in der Welt sei jedes Glück faul und wurmstichig, um deutlich zu machen, dass ihre beste Freundin Sulamith, die sich in einen hübschen Jungen aus der Welt verliebt hat, schon nicht weit kommen wird.

Dabei ist er derjenige, der alles dafür tut, Sulamiths Glück zu vereiteln. Esther, inzwischen 17, rekapituliert:

„Sulamith hatte recht. Es hatte sich nie angefühlt, als seien wir etwas wert. Unsere Träume, unsere Wünsche und Zweifel interessierten niemanden, im Gegenteil. Sie wurden als Bedrohung für die Gemeinschaft gesehen. Eine Wahrheit, so scharf wie ein sterilisiertes Messer, schnitt mir in die Brust.“

Der Roman reicht von Genesis bis Exodus

Die 22 Kapitel des Romans ordnet Stephanie de Velasco zwei nahezu gleich großen Generalrubriken zu, die in Anspielung an die Bibel benannt sind – "Genesis", also Entstehung und "Exodus", also Errettung aus der Knechtschaft und Auszug.

"Kein Teil der Welt" beginnt mit der Ankunft der Familie Esthers in Peterswalde, einer fiktiven Gemeinde in der Ex-DDR. Es ist kurz nach der Wiedervereinigung. Die Mutter gibt die fast kriegerisch klingende Devise aus:

„Wir sind hierher gesandt worden, „um die letzten Menschen zu fischen, bevor die große Drangsal kommt. (…) Hier liegt das rote Meer. Das rote Meer ist voller Fische. Jehova hat es geteilt, und dann hat er es wieder vereint. Jetzt kommen wir und fischen, so lange, bis kein Menschenfisch mehr übrig ist.“

Die Mutter ist immun gegen jegliches Gefühl

Die Mutter ist eine Art Spitzenmissionarin. Als Kind bewundert Esther, wie hübsch und gepflegt sie aussieht, ihren glänzenden Nagellack, die Bleistiftröcke und Spitzenkrägen, ihre Hartnäckigkeit beim Missionieren.

Der Mutter macht es nichts aus, von den Ungläubigen abgewiesen zu werden. Sie ist immun gegen Anfeindungen. Als Jugendliche begreift Esther dann, dass ihre Mutter immun ist gegen jedes Gefühl.

Die Ehe der Eltern scheint zerrüttet

Esthers Vater wirkt verdruckst. Er trägt zementgraue Anzüge und als Gemeindevorsteher befragt er sogenannte sündige Mädchen gerne nach Details ihres Sexlebens. Abends liegt er oft mit Bauchweh auf dem Sofa.

Esther fühlt sich unsichtbar wie ein "Wandelndes Blatt", die Gespensterheuschrecke im Schulterrarium.

Esther schwört dem Glauben letztlich ab

Sie hat das Gefühl eines Lebens in Kulissen, und dass ihre Mutter nur spielt, sie sei ein Mensch, damit das Gegenüber sich öffnet. Am Ende schwört Esther nicht nur den Zeugen Jehovas ab, sondern dem Glauben an einen Gott überhaupt:

„Glauben, das ist, als ob man versucht, eine Puppe zu füttern. Es geht nicht, man kann es nur spielen, sie kaut und schluckt nicht, sie nimmt die Nahrung nicht auf, genauso wenig wie die Götter oder ihre Stellvertreter hier auf dieser Welt die ihnen dargebrachten Opfer annahmen. Deswegen isst jede Puppenmama den Brei am Ende selbst, deswegen aßen die Israeliten all die geopferten Tauben und Lämmer am Ende selbst. Ein Leben lang versuchen, einer Puppe das Essen beizubringen, das ist Glaube.“

Der Stil des Romans ist ein Plädoyer für Chaos, Zumutung und Freiheit

Stefanie de Velascos Sprache im Roman ist reich an Bildern und eröffnet Räume für weitergehende Gedanken über die Bedingung des Menschseins. Die Sätze fließen spontan, unverstellt, natürlich.

Da gleichzeitig die amtlich-leblos wirkende Sprache der Zeugen Jehovas durch den Roman geistert, stellt man sich vor, ihre Kindheit dort hätte die Autorin kuriert, als sei ihr deswegen jeder falsche Ton, jedes Haschen nach Effekt zuwider.

Schon der Stil dieses Romans ist ein Plädoyer für Chaos, Zumutung, Freiheit, oder um den Vater noch einmal zu zitieren, für unsere "wurmstichige Welt". Eine andere gibt es eh nicht.

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Brigitte Neumann