Buchkritik

Klaus Theweleit – a - e - i - o - u. Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues

Stand
Autor/in
Frank Hertweck

a-e-i-o-u: Wer hat das Vokalalphabet erfunden? Waren es die Phönizier oder gar der große Sänger Homer? Klaus Theweleit wagt seine eigene These: Es kommt von griechischen Händlern und Piraten auf See, die sich mit Vokalen viel besser verständigen konnten. Eine schöne Geschichte, wunderbar erzählt!

Kritik ist bekanntlich die Verwandlung von subjektivem Empfinden in Argumente. Aber manchmal steckt im kritischen Umgang mit einem neuen Text so viel Biographie, so viel Geschichte, dass sich die persönliche Betroffenheit gar nicht abstreifen lässt und man gar nicht umhin kommt, ICH zu sagen. So bei Klaus Theweleits neuem Buch: Die Geburt des Vokalalphabets auf See.

Anfang der 1980er Jahre fand ich im Wühlkasten meiner Stammbuchhandlung ein etwas zerlesenes Buch mit vielen Bildern, „Männerphantasien“ Band 2, erstes Kapitel: „Die Masse und ihre Gegenbildungen.“ Den Autorennamen noch nie gehört, aber ich entschied, wenn Elias Canetti, Literaturnobelpreisträger von 1981, drin vorkommt, der mit „Masse und Macht“ das bis heute unerreichte Werk zum Thema geschrieben hatte, dann kaufe ich`s. Ich fand seinen Namen schnell, und so begann die Geschichte einer leidenschaftlichen Lesebeziehung.

Und wenn man nun die ersten Seiten des neuen Essays im italienischen Mantua aufschlägt, dem Ort, von dem ich zuerst in Theweleits Großprojekt „Buch der Könige“ erfahren habe, weil dort Claudio Monteverdi die erste Oper der Weltgeschichte im Auftrag des Herzogs Gonzaga komponiert hatte: „Orpheus und Eurydike“, dann, ja dann zeigt sich einmal mehr, dass nichts ohne Geschichte gesagt und geschrieben werden kann. Genau daraus hat Klaus Theweleit, der seit vielen Jahren in Freiburg lebt, seinen besonderen Schreibstil entwickelt. Er hat immer ICH gesagt, schon in seiner berühmten Dissertation, die als „Männerphantasien“ veröffentlicht wurde, was mit Sicherheit eine konventionelle universitäre Laufbahn verhindert hat. So hat er also eine Ein-Mann-Universität über die Jahrzehnte aufgebaut mit Schutzheiligen wie Jean Luc Godard, Bob Dylan, Jimi Hendrix, dem Jazz, dem Blues, der auch im neuen Buch seinen Platz findet. Viele Musiker – eben.

Theweleit hat sich nie als Cheftheoretiker verstanden, eigentlich auch nicht als Essayist, er ist eine Art Geschichten-Erzähler. Wenn gilt, was Jean Paul einmal über Romane geschrieben hat, sie seien Briefe an Leser, dann schreibt Klaus Theweleit Romane, also Briefe. Sie sind Mischformen, Genrebastarde, anarchistische Allesfresser. Nichts, was nicht in ihnen passieren könnte. Seine großen, vielbändigen Vorhaben wie das „Buch der Könige“, eine wilde Enzyklopädie des Verhältnisses von Macht und, meist männlicher, Kunst, das sind Gesprächs- und Denkangebote.

Seine kleineren Texte eher Antworten auf Zeitlagen, auf Fundstücke, keine Nebenschauplätze, keine Gelegenheitsarbeiten, sondern eher Nebenstränge einer weit ausgreifenden Textproduktion. So auch das neue Buch. Es trägt den etwas umständlichen Titel: „A-E-I-O-U. Die Geburt des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unterbewussten und der Blues“ und spielt dabei nicht nur auf die vielgebrauchte Nietzscheformel „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ an, sondern auf die anstoßgebende Essaysammlung: „Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie“.

Einer der Herausgeber ist der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler. Und man wird nicht fehlgehen, wenn man unterstellt, dass Theweleits Buch eine persönliche Auseinandersetzung mit dem früheren Freund ist, 2011 verstorben, mit dessen leidenschaftlicher und sicher auch rechthaberischer Griechenbegeisterung, mit dessen irritierender blinder Treue für Martin Heideggers Person UND Philosophie, mit dessen Thesen zur Entstehung des griechischen Vokalalphabets. Was ist damit gemeint? Das griechische Vokalalphabet verändert die Leistungsfähigkeit von Schrift komplett. Jeder Laut bekommt sein Zeichen, so dass mit einer überschaubaren Zahl davon mündliches Sprechen aufgeschrieben werden kann. Man muss es nicht einmal verstehen, sondern nur in Einzellaute zerlegen. Bis dahin, so ungefähr 800 vor unserer Zeit, gab es so etwas noch nicht. Es existierten Bilderschriften, Begriffsschriften, Silbenschriften, auch Konsonantenschriften, aber die Vokale waren noch nicht definiert.

Das gelang erst den Griechen. Gleichzeitig wurden auch die Zahlen und musikalischen Noten mit diesen Buchstaben notiert, so dass man ähnlich wie mit den Ziffern 1 und 0 heute im Computerzeitalter mit einer nicht allzu großen Zahl von Zeichen die Welt abbilden konnte – eine medientechnische Revolution. Friedrich Kittler ging es dabei um die Reinheit der griechischen Initiative. Er glaubte, und es ist, darauf verweist Klaus Theweleit immer wieder, letztlich eine Glaubensfrage, dass die Griechen ihr Vokalalphabet erfunden haben, um die Epen Homers aufzuzeichnen. Also nicht um irgendwelche Inventarlisten zu führen, Lagerinhalte zu katalogisieren. Verwaltung eben.

Nein, es ging um Dichtung, Poesie, das Schöne. Und das ist natürlich ein wunderbarer und verführerischer Gedanke. Man kann die vielen Verästelungen der Argumente und Gegenargumente nicht nachzeichnen, aber dahinter steckt, so Theweleit, auch etwas sehr Grundsätzliches. Wie viele deutsche griechensehnsüchtige Gelehrte wünschte Friedrich Kittler sich ein Griechentum, das alles gleichursprünglich aus sich selbst hervorbrachte, die unerreichten homerischen Epen, die Ilias, die Odyssee, ihr Versmaß, den Hexameter, das Aufschreibesystem: Vokalalphabet. Mehr Genie geht nun wirklich nicht.

Klaus Theweleit widerspricht dem mit guten Argumenten: Er betont nicht nur die orientalischen Einflüsse auf die frühen Griechen, er glaubt eher an „Übernahmen“ statt an „Erfindungen“, an Vorformen, Mischungen, nicht an reine Ursprünge. Er entfaltet eine ganz andere Geschichte, eine des Seebären Klaus Theweleit, er ist in Schleswig-Holstein groß geworden, gegen die vielen Landratten wie den Oberschwaben Martin Heidegger, den Sachsen Friedrich Kittler, der am Rande des Schwarzwalds zur Schule ging, und das Gros der deutschen Griechenenthusiasten. Seine Erzählung: Das Vokalalphabet ist auf dem Meer entstanden. Die Griechen um 1000 vor unsere Zeit waren ein – Volk, wäre fast zu viel gesagt: eine Gemeinschaft auf Schiffen, sie hatten kein politisches Zentrum, keine Zentrale, keine Priesterkaste, die wie bei der Konsonantenschrift, die ohne Schriftzeichen für Vokale auskommt, darüber entscheiden konnte, welche Vokale zu setzen und wie darum ein Text zu verstehen war. Kommuniziert wurde auf Distanz, es wurde gerufen, geschrien, gegen das Meer, mit dem Meer. Und nur Vokale lassen sich über einen größeren Abstand hören, Konsonanten nicht. Darum mussten die fixiert werden. Luv darf man bis heute nicht mit Lee verwechseln. Eine schöne Geschichte, zweifellos. Und von Klaus Theweleit wunderbar erzählt. ICH glaube gerne daran. Vor allem, weil es eine Erzählung von Freiheit ist.

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Autor/in
Frank Hertweck