Ein wirkliches Spätwerk: In seinem vermutlich letzten Roman widmet sich der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa seinem von inneren Zwiespälten gebeutelten Land, einem erleuchteten Kritiker – und der kreolischen Volksmusik.
„Die große Versuchung“ heißt Mario Vargas Llosas jüngster Roman – und sein letzter, wenn man der Schlussbemerkung im Buch Glauben schenken darf. Er handelt von dem abgehalfterten Musikkritiker Toño Azpilcueta, der sich in den Kopf gesetzt hat, der kreolischen Musik endlich den ihr gebührenden Rang zukommen zu lassen.
Kreolische Musik wird auch „peruanischer Walzer“ genannt, es ist eine Variante des europäischen Walzers im ¾ Takt - für Toño Azpilcueta eine identitätsstiftende, zwischen Arm und Reich vermittelnde Kunst.
Toño, der proletarische Intellektuelle
Toños Universitätskarriere endete einst in einer Sackgasse. Er schlägt sich nun mit Artikeln für kleine Zeitschriften durch, hat geheiratet und eine Familie gegründet, die er nicht ernähren kann; er sucht den Dunstkreis der Musiker, die er verehrt, und liebt heimlich die Sängerin Cecilia Barraza. Eines Tages hört er einen unbekannten, aber höchst virtuosen Gitarristen namens Lalo Molfino.
Dieses geradezu erleuchtende Erlebnis weckt neue Energien: Toño schreibt nun über Jahre an einem Buch, das ihm schließlich mindestens so viel Begeisterung wie Spott einträgt.
Immer mehr verrennt er sich in seine Idee, Peru sei Dank der Huachafería entstanden – ein Wort mit schillernder Bedeutung, das eigentlich so etwas wie Kitsch oder Affektiertheit bedeutet, mit dem Toño aber die eigentümliche Sentimentalität der kreolischen Musik zu beschreiben sucht.
Der „proletarische Intellektuelle“ Toño ist einer jener in Vargas Llosas Werk öfter auftauchenden Träumer und Utopisten –obsessiv, sich unverstanden fühlend, leidgeprüft.
Toño will Peru mit seinen Thesen einigen
Es sind die 1980er und 90er Jahre in Peru. Eine Zeit, als die kommunistische Partei „der Leuchtende Pfad“ zum bewaffneten Kampf aufruft und das Land zerrissen scheint. Toño hat die überhebliche Vorstellung, diesen Riss durch seine Thesen zu kitten. Nicht zuletzt aber gehen Risse durch ihn selbst, lauern in ihm gefährliche Dämonen.
„Die große Versuchung“ ist der Roman über einen Mann, dessen Leidenschaft mit seinem Hang zur Depression konkurriert. Dazu ein Künstlerroman, den Toño dem musikalischen Erneuerer Lalo Molfino widmet, einer schemenhaften Gestalt.
Und es ist eine Geschichte der kreolischen Musik – zahlreiche Namen bekannter Interpretinnen und Interpreten tauchen auf. Bald merkt man: In eingefügten Kapiteln lesen wir den Essay, den Toño schreibt, in dem er den Spuren Felipe Pinglo Alvas folgt oder den Liedern der gefeierten Sängerin Chabuca Grande lauscht.
In Essays und Artikeln hat der Literaturnobelpreisträger immer wieder den Niedergang der Hoch- und den Siegeszug der Massenkultur angeprangert. In seinem Roman versucht er nun mit seiner Hauptfigur in der Musik des Volkes eine alle Unterschiede überwindende Kunst heraufzubeschwören – ein romantischer Gedanke, ein naiver auch, denn die Kraft der Musik reicht kaum aus, alle Gegensätze zu überwinden.
Diese Ambivalenz – das Überschwängliche und Unbedarfte – ist dem Buch durchaus eingeschrieben. Und eine Trauer darüber, dass Peru den Weg der Einheit immer wieder verfehlt.
Der Abschiedsroman eines 88-jährigen Literaturstars?
Vargas Llosa ist mit diesem Roman ein durchaus würdiger Abschluss seines literarischen Werks gelungen, ein strahlender Abgesang. Gewiss wären einer strengeren Lektorin so manche erzählerische Umständlichkeit und Redundanz aufgefallen, auch gewisse Längen und Verästelungen hätten sich vermeiden lassen.
Aber wer würde einem inzwischen 88-jährigen Literaturstar mit dem Rotstift kommen wollen? Gerade im Moment des Abschieds. Einmal zitiert der Erzähler den früh verstorbenen Gitarristen Lalo Molfino, der zu Cecilia Barraza einen bedeutsamen Satz sagt, der dem Roman „Die große Versuchung“ auch zu seinem viel passenderen Originaltitel „Le dedico mi silencio“ verhalf:
Fast scheint es, als sei Vargas Llosas Buch um diesen auch an uns Leser gerichteten Satz herum geschrieben worden.
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