Clemens Setz wurde durch seinen Twitter-Account bekannt. Jahrelang schrieb er dort Gedanken, Gedichten und Fotos. Twitter heißt jetzt X und gehört Elon Musk - literarisch passiert kaum noch was. In seinem neuen Buch erinnert Clemens Setz an die kurze, schöne Zeit der Twitterpoesie.
Ein Clemens Setz-kritisches Gedicht von Clemens Setz. Es steht im wirklich beeindruckenden Buch „Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitter-Poesie.“ Achtung: Man muss hier zwischen Poesie und Lyrik unterscheiden.
Es geht nicht immer um Gedichte, es geht darum, dass Dinge eine poetische Wirkung haben, dass sie den Lesenden mit seltsamer Paradoxie überraschen, mit Unstimmigkeiten, über die man nachdenkt – dadurch wird der Kopf frei, selbst zu denken.
Und das ist etwas, was man im Netz gut gebrauchen kann, bei stundenlangem Gedaddel an Handy oder PC. Im Netz ist man schnell verloren, die Erfahrung hat wahrscheinlich jeder schon mal gemacht.
Ein Zappelphilipp im Sinfonieorchester
Die „Bibliothek Suhrkamp“ ist ein spannender Ort für solche Überlegungen, sie ist immerhin Heimat des ehrwürdigen Kanons der literarischen Moderne. Am Ende des Buchs von Clemens Setz findet sich, sozusagen in der Nachbarschaft, noch ein Verzeichnis früherer Bücher, von Kafka, Thomas Brasch, James Joyce und Elke Erb.
Darein reiht sich jetzt das Buch von Clemens Setz wie ein ADHS-kranker Zappelphilipp ins Sinfonieorchester. Kurze Texte, äußerste Geschwindigkeit, Präzision, extreme Leser-Orientierung - Ungeduld liegt über allem, passend zum im Buch erwähnten Motto der Twitterpoetin Carla Kaspari.
Ein Jahr im Internet sind sieben Menschenjahre
Die Einsamkeit des Kanarienvogels ist zum Heulen
Clemens Setz liefert mit der kurzen Geschichte der Twitterpoesie eigentlich gleich zwei Bücher – seine eigene Geschichte als Twitter-Autor und die höchst unvollständige Literaturgeschichte der Poesie auf dem Kurznachrichtendienst.
Zunächst geht es um Clemens Setz selbst, und um das, was er von 2015 - 2022 auf Twitter postete. Er, als ordentlicher, auf den Büchner-Preis zusteuernder Schriftsteller mit einem Anrecht auf das Marbacher Literaturarchiv, er speicherte seine Tweets natürlich akkurat ab und kann so jetzt aus den Vollen schöpfen.
Man muss schon poetisch sehr unterbelichtet sein, um keine Bilder im Kopf zu entwickeln und sich Gedanken, um das Schicksal des strampelnden Kanarienvogels zu machen. Die Einsamkeit ist zum Heulen, es ist aber auch ein Akt des Empowerments, der Selbstermächtigung.
Kurz – es ist ein Bild des Menschen, der conditio humana schlechthin, ein geradezu faustisches Bild des Satzes: „Wer immer strebend sich bemüht, den werden wir erlösen“ – und das auf 276 Zeichen komprimiert. Man will gleich noch ein Gedicht – bitte schön.
Da postet Setz ein Bild seines Knies, in dem man mit etwas Phantasie eine seltsam unheimliche, wie von einer Strumpfmaske überzogene, Visage erkennen kann.
Dutzende eigene Tweets hat Clemens Setz für den Band zusammengestellt und kommentiert. Die Gedichte verlieren nichts dadurch, im Gegenteil, sie sind ikonisch geworden – und endlich kann man sie lesen, ohne immer das Handy vor dem Gesicht zu haben.
Die Poesie ist auf der Strecke geblieben
Die zweite Geschichte ist die offizielle „twittersche“ Literaturgeschichte. Das ist ein melancholisches Unternehmen für nicht-Twitterer. Elon Musk nämlich hat den zwitschernden Vogel, wie Twitter heißt, bekanntlich angekettet, in eine Galeere gesperrt, damit er nicht nur eine Glühlampe, sondern seine ganze E-Auto-Tesla-Flotte erhelle.
Die Poesie ist dabei gründlich auf der Strecke geblieben, auch Clemens Setz hat aufgehört dort zu schrieben. Jetzt heißt das Ding „X“, und wer immer literarisch etwas auf sich hält, hat sich zurückgezogen. Aber es muss einmal herrliche Zeiten auf Twitter gegeben haben, als DJ Lotti, Computerfan 2001 und Carla Kaspari zum „Sprachwettstreit“ antraten und Twitter mit Kürzesttexten fluteten.
Davon ist heute nichts mehr übrig – außer ein paar versprengten Dateien auf alten Festplatten bei Setz oder irgendwelchen Sammlern. Twitter selbst hat sie gelöscht, die Reste trägt Clemens Setz hier zusammen – und endet melancholisch mit zwei Bots, die sich gegenseitig in Kochrezepten adressieren, die, weil sie immer nur die Fehler des anderen replizieren und variieren, einsam in die Depression versinken. „Alle zerplaten“, so heißt eine der letzten Nachrichten, für das Z war beim Zerplatzen schon keine Zeit mehr.
Clemens Setz hat mit „Das All im Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“, Literaturgeschichte geschrieben. Wie quasi alles, was er anfängt, baut das Buch Brücken in eine Welt, die alles Digitale immer noch als etwas minderwertig abstempelt.
Mancher glaubt ja mit Kafka, Bücher müssten immer Äxte sein für das gefrorene Meer in uns. Dieses gefrorene Meer aber ist längst in der Klimakrise geschmolzen, meint Setz. Im Fluiden der Poesie von Heute wenigstens einmal schwimmen kann heute, wer dieses kleine, kluge Buch liest.
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Rezension von Alexander Wasner.
Suhrkamp Verlag, 528 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-518-43109-2
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