Ein „Schattenvolk“ – das sind Can Xue zufolge die Chinesen der Gegenwart. Denn was haben sie in den vergangenen Jahrzehnten nicht alles erleiden müssen: politische Kampagnen, Landflucht, Verstädterung, Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Der Schattenwurf ist lang, und er reicht bis in die Gegenwart. Davon erzählt Can Xue in ihren sechzehn neuen Erzählungen. Die sind packend und bizarr zugleich.
Ein Buch der chinesischen Autorin Can Xue zu lesen, ist als würde man Achterbahn fahren und gleichzeitig halluzinogene Drogen konsumieren. Immer meint man, irgendetwas wie eine Realität zu erkennen – da wird man schon weiterbefördert in eine neue Dimension von Zeit und Raum.
Trotzdem haben Can Xues Geschichten immer eine Basis in der Gegenwart: Ihr geht es um das urbane China – das sich seit Jahrzehnten radikal und schnell verändert, rücksichtslos, teils auch gnadenlos.
Von diesem China handeln auch die 16 Erzählungen, die ursprünglich in den Jahren 1996 bis 2018 erschienen und die nun unter dem Titel „Schattenvolk“ von Eva Schestag nuancenreich ins Deutsche übertragen worden sind. Der Titel ist programmatisch.
Denn Can Xue – die ihre Geschichten bewusst nicht zeitlich verortet – zeichnet ein eher düsteres Bild vom fortschrittsverliebten China, indem sie uns mitnimmt in dessen Unterleib: Ihre Figuren navigieren durch verschmutzte Tunnel, klaustrophobische Räume, durch Höhlen und Abwasserrohre. Sprich: durch ein Welt gewordenes Unterbewusstes.
Gleich die erste Geschichte spielt im Slum einer namenlosen Stadt, von der man einzig erfährt, dass sich dort eine große Chemiefabrik befindet. In diesem Slum lebt auch der Ich-Erzähler.
Rabenschwarzer Humor, märchenhafte Elemente
Gefahren lauern an diesem Ort überall, auch für den Ich-Erzähler: Der Hausherr versucht, ihn zu vergiften, nachts wird er Zeuge, wie ein Mann wieder und wieder einen schwarzen Kater umbringt. Und dann ist da noch die Hausratte, die sich eines Tages an den Fersen eines Großväterchens festbeißt:
Solch rabenschwarze und zugleich märchenhafte Elemente sind immer wieder kunstvoll in Can Xues Geschichten eingestreut. Subtiler Horror wirkt da, aber auch dezenter Humor. Auch Träume und Alpträume, Fakt und Fiktion, Surreales und Reales – wie etwa der Verweis auf Hunger und Not – gehen darin Hand in Hand.
Das macht die Lektüre so rätselhaft wie spannend. Lange fragt man sich etwa in dieser Geschichte, wer und was eigentlich der Ich-Erzähler ist: ein Mensch – oder ein Tier?
Blick in die menschliche Seele durch den Spiegel der Tiere
Kafka – einer von Can Xues favorisierten Autoren – lässt tatsächlich in mehreren Erzählungen grüßen: Verwandlungen durchlaufen viele der Figuren. Und viele von ihnen sind sowieso Tiere: Eine ältere Elster etwa – die jeden Tag fürchtet, dass ihr Nest von böswilligen Menschen zerstört wird. Zikaden, die in der Abenddämmerung singen, notgedrungen von den Menschen geduldet:
Can Xue spielt damit womöglich auf die 1958 von Mao ausgerufene Kampagne „Ausrottung der vier Arten“ an, die einst mit zur Großen Hungersnot beitrug. Vor allem aber erzählt sie von den Abgründen der menschlichen Seele im Spiegel der Tiere.
Diese durchleben das ganze Register an Leid, Verzweiflung und Gewalt, das allen widerfährt, die unter die Räder des sich modernisierenden Chinas geraten. Wie die Menschen sind auch die Tiere konfrontiert mit dem Verlust von Heimat und Zugehörigkeit.
Die Landschaften in allen Erzählungen sind entsprechend feindlich gezeichnet: extrem heiß oder heimgesucht von sintflutartigen Unwettern; gleißend grell oder beklemmend dunkel. Leben, so macht Can Xue in solchen Bildern deutlich, bedeutet hier eher Überleben.
Statt Konstanz herrscht Kontingenz: durch Entwurzelung, durch Umsiedelung, ob erzwungene oder freiwillige. So gesteht gleich zu Beginn der titelgebenden Erzählung „Schattenvolk“ der Ich-Erzähler, dass er falschen Verheißungen von einem besseren Leben in der Stadt aufgesessen ist:
Schattenwelten, Parallelwelten: zwischen Himmel und Hölle
Und doch sind die Sinnesorgane aller Lebewesen in diesen Erzählungen mit feinem, ja feinstem Radar ausgestattet. Sie nehmen Kontakt auf mit Geistern, Verstorbenen und Ahnen – und damit mit all jenen, die den verdrängten vergessenen Humus bilden für die von Can Xue beschriebene Gegenwart. Kurz: Das Sichtbare ist in dieser Welt so real wie das Unsichtbare.
Diese Form der Wirklichkeitswahrnehmung prägt die vorliegenden Erzählungen ebenso wie das daoistische Konzept des Wu Wei, das Nichthandeln als Handeln begreift. Das stille Glück aller Figuren liegt genau hierin: zu akzeptieren, was ihnen widerfährt.
An Aufbegehren denkt jedenfalls keine von ihnen. Ist das weise – oder totale Resignation? Zudem schließt der Band mit Geschichten, in denen der Erdenschwere eine erträumte Flucht entgegensteht:
Die Erzählung „Glück“ etwa spielt in einem Haus, das kein Oben und Unten besitzt, sich aber unverkennbar zum Himmel hin öffnet. Und mit einem Sturz in den Himmel endet auch die letzte der Geschichten.
Dante – ein weiterer literarischer Ahnherr der Autorin – dürfte Pate gestanden haben für den formalen Bogen, den auch Can Xues Erzählungen vollzieht: von der Unterwelt hin zu einem nicht verortbaren Anderswo.
Tatsache ist: Mit ihren mesmerisierenden Geschichten lotet Can Xue die Abgründe und Verwerfungen des modernen China aus – und bietet zugleich Erzählkunst auf höchstem Niveau.
Mehr Literatur aus dem Chinesischen
Buchkritik Chen Qiufan, Xia Jia, Chi Hui, Regina Kanyu Wang, Jiang Bo, Ken Liu – Science-Fiction aus China. Sechs Geschichten von heute über morgen
Das deutsche „Kapsel“-Magazin hat sich seit einigen Jahren ganz und gar zeitgenössischer chinesischer Science-Fiction verschrieben. Nun ist im Rahmen des Projekts ein erstes Buch entstanden. „Science-Fiction aus China. Sechs Geschichten von heute über morgen“ heißt der Titel. Marten Hahn die Geschichten gelesen.
Rezension von Marten Hahn.
Fruehwerk Verlag, 160 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-941295-22-3
Gespräch Liao Yiwu – Wuhan | Dokumentarroman
Am 23. Januar 2020 – vor genau zwei Jahren – ging die Stadt Wuhan in den Lockdown. Eine neue Atemwegserkrankung war ausgebrochen, die zunächst vertuscht und dann SARS-CoV2 genannt wurde. Kam sie wirklich – wie schnell behauptet wurde – von einem Wildtiermarkt? Oder doch aus dem nahegelegenen Hochsicherheitslabor, das just zu diesen hochgefährlichen Fledermaus-Viren forscht? Klären konnte dies nicht einmal die WHO, denn China gibt wenig preis.
Es ist genau diese chinesische Vertuschungspolitik, die den in Berlin lebenden Autor Liao Yiwu umtreibt. In seinem neuen Roman „Wuhan“ versucht er, in einem Mix aus fiktiver Heimreise und faktischer Internetrecherche etwas Licht in die Sache zu bringen. Mit seinem „Dokumentarroman“ hat er einen Literaturhybrid erfunden, der zwischen barockem Schelmenroman, journalistischer Fernrecherche und politischer Warnung oszilliert.
Katharina Borchardt im Gespräch mit Isabella Arcucci.
Aus dem Chinesischen von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann
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ISBN: 978-3-10-397105-7
Buchkritik Lu Xun - Tagebuch eines Verrückten. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann.
China im April 1918: Ein Reisender stößt auf das Tagebuch eines Verrückten. Der junge Mann litt unter Verfolgungswahn und sah in allen Mitmenschen Kannibalen. Lu Xuns Abgesang auf eine „menschenfressende“ Feudalgesellschaft, der im Kommunismus des 20. Jahrhunderts neue Aktualität erhielt. Jetzt neu übersetzt!
Rezension von Katharina Borchardt.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann & Team
Projektverlag
ISBN 978-3-89733-498-4
76 Seiten
10,80 Euro