Argentinien war ein wichtiger Zufluchtsort für Juden im Zweiten Weltkrieg. Doch nach dem Krieg flüchteten auch viele Nazis in das lateinamerikanische Land und konnten ihre Ideologie dort ungehindert weiter verbreiten. Über dieses schmerzhafte und absurde „Tür an Tür“ hat Ariel Magnus ein faszinierendes Buch geschrieben, der selbst aus einer Familie deutsch-argentinischer Juden stammt.
Ariel Magnus lebt seit zwei Jahren mit seiner Frau in Berlin, in einer kleinen Wohnung im Kreuzberger Kiez. Dort habe ich ihn aufgesucht, um auch sein Umfeld kennen zu lernen.
Ich hasse das, wenn Reporter das beschreiben. Und ich würde dich nie einladen, wenn ich wüsste, dass du ein Reporter bist. Ich lade dich ein, weil du aus dem Radio kommst, und Radios machen das normalerweise nicht. Hättest du eine Kamera, dann kommst du hier nicht rein. Ich bin selbst Journalist und weiß, dass man Journalisten fernhalten muss.
Als mich dennoch die geringe Anzahl von Büchern in seinem Arbeitszimmer irritiert, erklärt er einen für sein Leben typischen Aspekt.
Meine Bücher sind immer noch in Argentinien, die 7.000 Bücher, die wir haben, meine Bibliothek ist dort, und meine Bibliothek ist mein Zuhause. Irgendwie ist das hier nicht mein Zuhause. In diesem Sinne beschreibt das, wo ich wohne.
Doch als was fühlt sich dieser Kreuzberger Neubürger eigentlich? Wo liegen für ihn die familiären Wurzeln?
Das war eine deutsch-jüdische Familie. Das nennen wir in Argentinien und auch anderswo Jekken, da mischen sich beide Eigenschaften, und man weiß nicht, welche vorherrscht, das Deutsche oder das Jüdische. Und das habe ich immer wieder so erlebt. In manchen Dingen bin ich eher deutsch als jüdisch, in manchen anderen eher jüdisch als deutsch. Wenn ich wirklich sagen sollte, was den Vorrang hat: das deutsche Element, klarerweise.
Bisher hat sich Ariel Magnus als Romanautor seiner Familiengeschichte genähert: dem Schicksal seiner Großmutter, einer Auschwitz-Überlebenden, in Zwei lange Unterhosen der Marke Hering, und seines Großvaters in Die Schachspieler von Buenos Aires. Für Das zweite Leben des Adolf Eichmann musste er sogar bewusst die fiktionale Form wählen, weil er so tiefer in den psychologischen Charakter dieser widerwärtigen Figur des Nazismus einzutauchen vermochte. Für sein neues Werk Tür an Tür. Nazis und Juden im argentinischen Exil, erstmals auf Deutsch geschrieben, hat er sich für die Form des Sachbuchs entschieden, denn darin geht es um das besondere Verhältnis von Nazis und Juden. Die Juden mussten vor den Nazis fliehen, und die Nazis haben sich später vor ihren Strafverfolgern besonders in Argentinien in Sicherheit gebracht, und oft haben sie ‚Tür an Tür‘ gelebt.
Es kamen nicht nur ein paar Nazis, ganz große Nazis, ganz viele, ganz krude Nazis. Ich hatte eine Ahnung davon. Erst in diesem Buch habe ich jedoch bemerkt, dass es unglaublich ist. Nachdem die Nazis aus Brasilien rausgehen mussten, gingen sie nach Buenos Aires. Interessant dabei ist: die Nazis waren ganz stark vor dem Krieg, während des Krieges und sehr stark nach dem Krieg.
Buenos Aires war das Zentrum der Nationalsozialisten. Sie hatten bereits in den 1930er Jahren Fuß gefasst und versuchten, sich hier ihre Machtbasis in Lateinamerika zu sichern, was allerdings nicht gelang. Nach dem Krieg fanden sie im argentinischen Präsidenten Perón einen Unterstützer. Doch war der Begründer der vielgestaltigen peronistischen Bewegung, der stets das Image eines Faschisten gehabt hat, auch ein Nazi?
Um zu wissen, ob jemand ein Nazi ist, muss man sich zuerst fragen: Ist er ein Antisemit? Sonst ist er ein Faschist, wie es so viele gibt. Es gibt sogar Bücher, wo beschrieben wird all das, was Perón für und mit den Juden gemacht hat, was kein Nazi gemacht hätte. In diesem Sinne kann man nicht sagen, er ist ein Nazi. Er war klüger als die Nazis. Er konnte mit Nazis verhandeln, mit Juden, es war ihm egal.
Unter Antisemitismus litten die deutschen Juden am wenigsten durch die argentinische Bevölkerung. Selbst beim Zusammenleben mit Nationalsozialisten in einem Haus ging man sich eher aus dem Weg. Am schlimmsten war die offene Feindschaft dort, wo doch eigentlich die gemeinsame deutsche Kultur gepflegt werden sollte: im Deutschen Club. Der Zutritt war den Juden sogar nach dem Untergang des sog. Dritten Reiches noch lange verwehrt – wie Ariel Magnus ausführlich belegt. Sein kritischer Blick richtet sich jedoch vor allem nach innen, auf die jüdische Gemeinschaft, in der er aufgewachsen ist, denn er will außer ihrer Vielfalt auch ihre Widersprüche und ihre innere Zerrissenheit zeigen.
Diese Spaltung wird von den Deutschen gefördert, es sind die deutschen Juden und der Rest. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sind die Deutschen immer noch Deutsche, die Jekkes. Ich habe von Jekkes gehört, sie würden lieber mit Nazis zusammen sein als mit Ostjuden. Von meinem eigenen Großvater mütterlicherseits habe ich gehört, dass er mit Hitler ziemlich einverstanden war, nur die Sache mit den Juden, damit war er natürlich nicht einverstanden.
Ein sehr differenziertes Bild von der jüdischen Community entwirft dieser argentinische Schriftsteller mit den deutsch-jüdischen Wurzeln. Der Titel Tür an Tür mag etwas irreführend sein, denn es geht ihm weniger um das unmittelbare Zusammenleben als um die großen Zusammenhänge, auf deren Absurdität er mit der ihm eigenen Ironie immer wieder verweist. Auf dem engen Raum von 170 Seiten gelingt es Ariel Magnus jedenfalls, tiefe Einblicke in das Verhältnis von „Nazis und Juden im argentinischen Exil“ zu vermitteln.