Buchkritik

Lavie Tidhar – Maror

Stand
Autor/in
Sonja Hartl

Israelische Geschichte als Krimi-Epos: Der aus einem Kibbuz stammende Lavie Tidhar erzählt in seinem fulminanten Thriller „Maror“, wie Israel durch Krieg und Verbrechen mächtig geworden ist. Ein großer Roman in einer heiklen Zeit, der voller Gewalt und Zorn steckt.

Mit „Maror“ hat sich Lavie Tidhar etwas vorgenommen: Die Geschichte Israels von 1974 bis 2008 erzählen – und zwar als Geschichte der Gewalt, Korruption und Skrupellosigkeit.  

Es kamen immer mehr. Die Diebe, die Vergewaltiger, und hatte Bialik – oder war es Ben Gurion? – nicht geschrieben: »Erst wenn wir unseren eigenen hebräischen Dieb, unsere eigene hebräische Hure und unseren eigenen hebräischen Mörder haben, haben wir wahrhaftig einen Staat.« Hier wurde es wahr, dachte Benny. Hier wurde es Wirklichkeit.  

Das denkt der Verbrecher Benny auf der Party eines russischen Milliardärs in Tel Aviv 1994, auf der Politiker und Armee-Generäle mit Callgirls feiern – und fasst damit das programmatische Anliegen dieses Romans zusammen. Ein brisantes Vorhaben: In Israel ist der im Original auf Englisch geschriebene Roman bisher nicht erschienen.

Bislang sicherheitshalber nur auf Englisch erschienen 

In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte Lavie Tidhar dazu, das Land sei noch nicht so weit, in israelischen Krimis gehe es immer darum, mit der Aufklärung der Tat die Welt vor dem Verbrechen wiederherzustellen. In „Maror“ lässt sich nichts wiederherstellen, das System läuft, ist im Innern aber kaputt. Eine streitbare, in sich aber stimmige Darstellung.  

Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden. 

Das ist die Überzeugung des korrupten Chief Inspector Cohen, der in diesem gewaltigen Epos im Hintergrund alle Strippen zieht. Ein Mann mit eiskalten Augen, stets ein Bibelzitat auf den Lippen. Ein Polizist, der auch fürs organisierte Verbrechen arbeitet, um die Stabilität des Landes zu wahren. Nach seiner Auffassung. Ob Attentat, Waffenschmuggel oder Landbesetzung, er tut, wovon er glaubt, was getan werden muss. Als der Libanonkrieg die Drogengeschäfte stört, sorgt er für einen neuen Lieferweg. Ab den 1980er Jahren führt ihn der Handel mit Drogen und Waffen bis nach Lateinamerika und Kalifornien. Nie zweifelt er, nie ist er zu fassen. Auch erzählerisch bleibt er im Hintergrund. Eine kluge Entscheidung: So spiegelt die Erzählung sein Wirken, wird er von den Figuren mal als eiskalter Mörder, mal als manipulierender Helfer wahrgenommen. 

Knapp 40 Jahre Kriminalitätsgeschichte

In den knapp 40 Jahren, die die Handlung umfasst, steigt Cohen innerhalb der Polizei auf. Aber „Maror“ ist kein linear erzählter Roman: Episodisch springt er durch Raum und Zeit, in 18 Teilen tauchen Figuren auf und verschwinden wieder. Bis auf Cohen. Der bleibt.

Die Verbrechen haben Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten und Personen. Dazu reichert Tidhar seine Verbrechensgeschichte mit vielen Alltagsbeobachtungen an. Wir laufen durch die Straßen von Tel Aviv, besuchen an der Seite von Polizisten, einer Reporterin oder auch einer Dealerin Nachtclubs und Bars. Oft läuft irgendwo Musik, die die Figuren hören und kommentieren. Im Mittelpunkt aber stehen stets die Verbrechen.  

Lavie Tidhar wuchs in einem Kibbuz auf 

Der 1976 in Israel geborene, in einem Kibbuz aufgewachsene und in London lebende Lavie Tidhar – bisher für seine Science-Fiction-Romane bekannt – ist nicht der erste Autor, der die Geschichte eines Landes anhand seiner Verbrechen erzählt. James Ellroy etwa hat das in seiner „Underworld USA“-Trilogie gemacht. Im Gegensatz dazu ist „Maror“ aber keine Verschwörungserzählung.

Tidhars Erzählung folgt ausschließlich der knallharten Logik von Gier, Korruption und Macht. Es geht nicht um Ideologie, sondern um Kontrolle. In „Maror“ ist Israel ein Staat wie jeder andere – ein Staat, in dem Armeeangehörige unantastbar sind, Politiker, Polizisten und das organisierte Verbrechen zusammenarbeiten. In jeder Generation werden die Hoffnungen junger Menschen auf Frieden und Normalität aufs Neue zerstört.  

„Maror“ übt brachiale und provokative Kritik am israelischen Staatsapparat, ist aber niemals moralisierend, sondern mit viel Tempo und Härte erzählt. Fertig ist Tidhar mit seiner erschütternden Gegenerzählung der Geschichte Israels noch nicht: Mindestens einen Teil, der weiter in die Vergangenheit Israels hineinreicht, wird es noch geben.  

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Sonja Hartl