Buchkritik

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Stand
Autor/in
Joachim Dicks

Magda Quandt, die später Magda Goebbels hieß, war Hitlers Vorzeigemutter. Nora Bossong erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive von Hans, der schwul ist, aber mit Magda eine Affäre beginnt. Das literarische Portrait einer verblendeten Opportunistin und einer Gesellschaft auf dem Weg in den Faschismus.

Frühe Begegnung mit Magda Quandt

Von einem Friedhof stammt das Motto, das dem Buch vorangestellt ist: „Was Ihr seid – das waren wir; was wir sind – das werdet Ihr“. Etwas Bedrohliches geht von diesen Worten aus und legt sich als Grundstimmung über die ganze Lektüre. Der fiktive Ich-Erzähler Hans Kesselbach entführt uns in die Zeit zwischen 1919 und 1945.

In der Schule freundet er sich mit Hellmut Quandt an, dem Sohn des sehr wohlhabenden und einflussreichen Industriellen Günther Quandt. Bei ihm zu Hause lernt er auch Magda kennen, Hellmuts sehr junge Stiefmutter, die später in zweiter Ehe zu Magda Goebbels wird.

Feine Nuancen von Nora Bossong

Wie sich das gesellschaftliche Klima und mit ihm die Menschen in den 1920er allmählich verändert, das zeichnet Nora Bossong in sehr feinen Nuancen nach.

Von der Uhlandstraße herunter marschierten einige Männer mit Fahnen und im Gleichschritt. Dieses Bild sah man jetzt häufiger, seit das Verbot der SA aufgehoben worden war, und ich hatte mich schon daran gewöhnt, wie man sich mit Baulärm oder zankenden Nachbarn abfindet. Wenn jemand bereit sei, sein Leben für ein Idee zu opfern, ob man dafür, fragte Magda, nicht doch mehr Achtung empfinden müsse als für jene, die im ewigen Einerlei immer weitermachten wie Zirkustiere, die dressiert im Kreis liefen.(…) Sogar Hellmut sah sie verwundert an, denn ihre Bemerkung passte so gar nicht zu dem, was man in Neubabelsberg zu sagen pflegte.

Psychologische Entwicklung verknüpft mit gesellschaftlichen Veränderungen

Wie in ihren früheren Büchern „Webers Protokoll“ und „Schutzzone“ schafft es Nora Bossong, die psychologische Entwicklung ihres Protagonisten mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu verweben.

Hans entdeckt seine homosexuellen Neigungen schon als Jugendlicher. Um der Strafverfolgung nach Paragraph 175 zu entgehen, pflegt er später auch sexuelle Kontakte zu Frauen. Als die Ehe zwischen Günther Quandt und Magda in die Brüche geht, wird er ihr Geliebter:

Magda bat mich, das Licht zu löschen. Im Halbdunkel öffnete ich den Rückenverschluss ihres Kleides, und sie ließ es von ihren Schultern hinuntergleiten. Sie stand in schlichter Unterwäsche vor mir, setzte sich aufs Bett, um die Seidenstrümpfe anzurollen, hielt inne und wartete, bis ich mich entkleidet hatte. (…) Kurz öffnete sie die Lider und erschrak, als sie merkte, dass ich ihr ins Gesicht blickte. Ich habe sie nie wieder derart nackt gesehen, und später, als sie für die Zeitungen posierte, ihre Kinder vorzeigte als Beweis ihrer gewonnenen Kämpfe, dachte ich wieder daran. Sie wollte so unbedingt gesehen werden, und sie hatte so unbedingte Angst davor erkannt zu werden.

Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher

Die Autorin umschifft bei der literarischen Gestaltung der historischen Figuren erfolgreich jede Kitsch- und Cliché-Klippe. Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher und zugleich werden sie zu Blaupausen für Persönlichkeitsentwicklungen, die weit bis in unsere Gegenwart reichen und die mit dem Ende des Nationalsozialismus keinesfalls untergegangen sind.

Stellvertretend dafür steht die Geschichte der Familie Quandt. Ihren Wohlstand hat sie im Ersten Weltkrieg begründet und in den Nazi-Jahren gnadenlos ausgebaut. Und bis heute gehört sie, wie Bossong am Ende schreibt, zu „den reichsten und wirtschaftlich mächtigsten Familien Deutschlands“. Was geschah etwa während der Wirtschaftskrise 1929?

Quandt tat noch einmal, was er im Frühsommer getan hatte, er setzte Menschen vor die Tür. Anders als bei Magda trauerte er ihnen nicht nach, und er zahlte ihnen auch keine Abfindung. Er handelte wie fast jeder Unternehmer in diesem Herbst, und die Stadt war plötzlich überfüllt mit Zeit. Niemand brauchte noch die Minuten und Stunden und Jahre der Arbeiter, sie waren keine Sekunde eines Günther Quandt mehr wert, und die Entlassenen drängten sich vor den Volksküchen oder saßen mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Bordstein und blickten ins Nichts.  

 Der Blick in die Vergangenheit erhellt unsere Gegenwart

Der Berliner Reichskanzlerplatz, der dem Roman den Titel gibt, heißt heute übrigens Theodor-Heuss-Platz und hieß von 1933 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz. Dort lebte Magda Goebbels nach ihrer Scheidung von Quandt und brachte wohlhabende Industrielle mit Hitler in Verbindung.

Den schleichenden Prozess, in dem eine instabile Demokratie, erst allmählich und dann explosiv, auseinanderbricht und dann das daraus erwachsende faschistische Regime eine globale Katastrophe auslöst, schildert Bossong sehr eindringlich. Durch die Folie der Vergangenheit lässt sie uns unsere Gegenwart besser erkennen. Einfach grandios!

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Rezension von Lukas Meyer-Blankenburg.
Edition Suhrkamp,194 Seiten,16 Euro
ISBN: 978-3-518-12773-5

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