Buchkritik

Jovana Reisinger – Pleasure

Stand
Autor/in
Eva Marburg

Mit ihrem Essay „Pleasure“ erkundet die Autorin und Künstlerin Jovana Reisinger ihr weibliches Bedürfnis nach Luxus und Genußbefriedigung. Dabei untersucht sie auch die gesellschaftlichen Bedingungen für ein gutes Leben, die Luxus nicht immer für alle vorsehen. Ein Buch der Ausschweifung und des Hungers nach Konsum, das jedoch bei einem radikal individuellen Wohlfühl-Feminismus stehenbleibt.

Dies ist ein Buch über Lustbefriedigung, über den Genuss, Begierde und Glamour – denn all das ist „Pleasure“ wie es in diesem Erkundungsbuch über das gute Leben steht: die Fähigkeit Genuss zu empfinden.

Pleasure, sagt Jovana Reisinger, sei sehr individuell, kann aber grundsätzlich sehr viel, fast alles sein: „Einen sehr guten Kaffee trinken oder ein anderes tolles Getränk, etwas Tolles zu essen. Aber auch das Ausschlafen. Ich sag ja die ganze Zeit, mein größter Luxus ist es tatsächlich auszuschlafen, und zwar nicht im Sinne von sehr lange schlafen und dann irgendwie den Tag zu vertrödeln, sondern aufzuwachen ohne Wecker und tatsächlich ausgeschlafen zu sein. So wie ich auch sage, dass mein größter Luxus ist, in Ruhe arbeiten zu können und das wiederum befriedigt mich ja auch total, das heißt, das ist auch für mich Pleasure."

Jovana Reisinger auf der Frankfurter Buchmesse 2023
Jovana Reisinger ist Autorin, Filmemacherin, Künstlerin und Single.

Jovana Reisinger ist Single und will es auch sein. Sie ist selbstbestimmte Künstlerin und Autorin, sie liebt Events wie den roten Gala-Teppich, Partys, teure Restaurants, viele Liebhaber und vor allem Designer-Mode.

Ich will die Liebe, den Sex, die Romanze, den Erfolg, die Selbstbestimmtheit, das Geld, die Sorglosigkeit, die Karriere, das Outfit, die Gesundheit, den Fame, die Geschenke. Ich will mich nicht dafür schämen müssen – weder dafür, dass ich über meine Grenzen gehe, um manches davon zu bekommen, noch dafür, dass ich manches davon bekomme, und es mich glücklich macht.

Traum vom Reichtum

Der Autorin war all das ursprünglich nicht mitgegeben. Aufgewachsen in einer Kulisse der Armut, wie es heißt, mit Eltern, die eine Dorf-Wirtschaft betrieben – träumte sie sich seit ihrer Kindheit in die Welt der Reichen, die sie aus den Medien kannte. Paris Hilton als das erste große Vorbild oder später Carrie Bradshaw aus der Serie Sex and the City: die schreibende Frau in High-Heels mit der Designer-Handtasche.

Wer darf wie genießen?

Das Buch ist deshalb auch das Zeugnis eines hart erarbeiteten Aufstiegs und eine Analyse von Klassismus. Es untersucht anhand von drei Kategorien – Kleidung, Essen und Schlaf – welche Form des Genusses für wen gesellschaftlich bestimmt ist.

Welche sozialen Zuschreibungen finden sich in der Mode, in der Auswahl der Speisen und in dem Luxus der Erholung? Jovana Reisinger hat erlebt, dass Herkunft im Kulturbetrieb oft ein Grund für Abwertung ist. Bei einer Filmgala wird sie gefragt, was sie als Zitat „Prostituierte“ denn auf dem roten Teppich zu suchen hätte.

Reisinger sagt dazu: „Also in dem Moment, wenn ich als Schriftstellerin, die ja durchaus ernst zu nehmende Bücher schreiben will - was auch immer das wieder bedeuten möchte – wenn die sich dann wiederum so anzieht, was als vulgär gelesen wird, dann passiert da auch wieder so eine Entwertung. Und genau in diese Lücken und genau in diese Spielräume, in genau die will ich rein. Und das wollte ich mir nochmal genauer angucken und deswegen wollte ich auch dieses Buch schreiben."

Die Intellektuelle im Tussi-Look

Verschiedenste Formen von Pleasure lassen sich also auch als Spielweise von unten begreifen, so will es das Buch verstanden wissen, bei der sich die normierenden Zuschreibungen unterwandern und neu definieren lassen. Im Tussi-Look klug und eloquent sein, Männer zu Objekten machen in Spitzenunterwäsche, mit viel zu langen Fingernägeln den Essay schreiben. 

So Reisinger: „Ich behaupte eben auch, dass es durchaus ein politisches Moment haben kann, eine politische Bewegung haben kann, wenn es nämlich von unten nach oben geht. Also, wenn diese Leute, die vermeintlich nicht dazu gehören sollen zum elitären Literaturbetrieb, wenn die dann aber diesen Platz einnehmen und in diesem Sinne schon für Ärger sorgen."

Ausschweifung als literarische Performance

Diesen Ärger oder die Irritation performiert auch der Text in gewisser Weise. Er ist raumnehmend und ausschweifend, redundant und regelrecht maßlos: in seiner unerbittlichen Aufzählung von Designer-Labeln, Handtaschen, Kleidern und Heels, Restaurantbesuchen, Textnachrichten von Lovern und Hotelaufenthalten.

Demonstrative Übertreibung

Der Glam, der Sex, die Übertreibung, die Oberflächlichkeit und die unentwegte Selbstinszenierung machen dieses Buch aus, das zwischen Essay und ausuferndem Genussbericht hin und her schwingt. Die Frau, die alles will - hier wird sie erlebbar und gibt sich auch preis. Insofern ist literarisch bewiesen, was auch eine These des Buches darstellt: die Frau in ihrem Hunger nach Pleasure kann eine Herausforderung sein, vor allem für die Männer.         

Meine Nägel sind fertig. Sie sind obszön, geschmacklos und hinreißend sexy. Vor allem aber sind sie ein Zeichen meiner Selbstfürsorge. In den 60 Minuten ihrer Produktionszeit gebe ich meine Hände ab, kann nicht arbeiten, nichts erschaffen, niemandem dienlich sein.

Konsum für den Wohlfühl-Feminismus

Was das Buch wenig reflektiert, ist der Preis der Ausbeutung und Ungerechtigkeit, die mit diesem Hunger nach Konsum, der Befriedigung schaffen soll, verbunden ist. Die Frau, die sich die Nägel machen lässt, verschafft sich Pleasure und Erholung.

Die Frau, die die Nägel machen muss, fällt aus dem Bild. Ein neoliberaler Geist weht somit durch den Essay, denn das Buch „Pleasure“ fragt nie nach Allianzen, nach Solidarität, nach Koalitionen. Ein radikal individueller Wohlfühl-Feminismus mit Mitteln des Konsums wird zur Schau gestellt, der letztlich einer Ethik entbehrt. Auf dem roten Teppich stirbt jede Frau für sich allein.      

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