Buchkritik

Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Zeit vergeht, Zeit kann sinnvoll genutzt oder vergeudet werden. Aber wer bestimmt, was sinnvoll ist und was vergeudet? In einer umfangreichen Studie versucht Michaela Krützen anhand filmischer und literarischer Figuren, dem sich stets auch wandelnden Begriff der „Zeitverschwendung“ auf die Spur zu kommen.

Mit was sich so alles Zeit verschwenden lässt! Man kann als Alt-Hippie angenehm bekifft und bowlend die Tage vergammeln, in einen Morgenrock gehüllt tagein tagaus auf dem Sofa bzw. Bett liegen oder sieben Jahre lang in einem Schweizer Sanatorium einen ominösen Katarrh pflegen.

Sie haben die Zeittotschläger, von denen hier die Rede ist, möglicherweise schon erkannt. Es handelt sich bei allen um fiktive Figuren aus dem Film und der Literatur – um den „Big Lebowski“ gespielt von Jeff Bridges, um Ivan Gontscharows bettlägerigen Helden „Oblomow“ und um Hans Castorp, der erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs wieder von Thomas Manns „Zauberberg“ heruntersteigt.

Anhand dieser und ein paar Figuren mehr führt uns die Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen durch das weite Themenfeld der „Zeitverschwendung“. 

(…) was als Zeitverschwendung gilt, charakterisiert jeweils das Verhältnis einer gesellschaftlichen Gruppierung zur Arbeit und zum Müßiggang, zum Geldverdienen und zur Muße. Was eine Welt als Zeitverschwendung brandmarkt, sagt aus, wie diese Welt ist.

„Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur“ lautet der Untertitel ihres umfangreichen Buches, das seinem Gegenstand mit detailgetreuen Nacherzählungen, genauen Analysen und theoretischem Überbau auf den Grund geht.

Jedem Film und jedem Buch, jedem exemplarischen Gammler, jedem erbärmlich Wartenden und haltlosen Drifter stellt sie nämlich einen Theoretiker zur Seite, der nicht nur die jeweilige Figur erläutern helfen soll, sondern auch die spezifischen soziologischen und philosophischen Hintergründe, vor denen sich überhaupt von Zeitverschwendung sprechen lässt. 

Die Königin als It-Girl 

Um die Komplexität noch ein bisschen zu steigern, betrachtet sie manche Phänomene über Bande: So handelt das Anfangskapitel über Marie Antoinette und die aufwändigen Zeremonien am Hof Ludwigs XVI. nicht von der historischen Tochter Maria Theresias, sondern von jener Pop-Figur, die Sofia Coppola nach dem Vorbild der It-Girls der 2000er Jahre in ihrem Film über die Königin erschaffen hat.

Zu ergründen versucht sie diese mit Norbert Elias‘ Studien zur höfischen Gesellschaft – was fast automatisch überleitet zu ihrem zweiten Gewährsmann, nämlich Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ Kultroman „American Psycho“.

Dieser Prototyp eines Yuppies und maßlosen Konsumenten, in dessen rauschhaften Killerfantasien die hyperkapitalistische Ideologie zu sich kommt und der nur noch so tut, als gehe er einer Arbeit nach, wird mit Pierre Bourdieus soziologischem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ als Lupe gelesen.

Zeit entschlüsseln 

Vom Vergehen der Zeit und von wechselndem Zeitempfinden zu sprechen, braucht ebenfalls Zeit. Es geht immer auch um Verschiebungen in der Bewertung gesellschaftlicher Aufgaben und Verpflichtungen, um Fortschritt und Beharrung, politischen Aufbruch und Stillstand.

Dabei schweift Krützen immer wieder zu anderen Kunstwerken und sogenannten „Verbindungsfiguren“ ab, um auf eine wesentliche Erkenntnis dieses Buches zusteuern zu können: 

Es gibt keine Zeitverschwendung; man kann Zeit lediglich als verschwendet bewerten.

Ein Mammutwerk, mit dem sich Zeit gewinnbringend verschwenden lässt 

Krützens Mammutwerk, mit dem sich Zeit ziemlich gewinnbringend verschwenden lässt, muss übrigens nicht chronologisch gelesen werden. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten Aspekt der Zeitverschwendung oder einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Perspektive darauf; man kann nach Interesse hin- und herspringen.

Ganz in die Gegenwart allerdings wagt sich Krützen nicht vor: Für die unmittelbare Erfahrung einer neuen digitalen Weltordnung von Social Media bis KI fehlen noch wirklich repräsentative Figuren in Literatur und Film.

Möglicherweise aber ist gerade irgendwo eine Autorin oder ein Drehbuchschreiber dabei, eine solche Figur zu erschaffen. Zeitverschwendung hört niemals auf. 

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