In Dschidda ist ein philippinisches Hausmädchen umgekommen. Offenkundig ertrunken. Genaueres aber kann der philippinische Ermittler kaum herausfinden, kräht nach einer Arbeitsmigrantin mit falschem Pass doch kein Hahn. In „Last Call Manila“ erzählt Jose Dalisay von moderner Leibeigenschaft und zeichnet zugleich ein detailreiches Gesellschaftspanorama der Philippinen.
Ein Sarg kommt an am Flughafen von Manila. Darin liegt eine junge Philippina, kurz zuvor noch Hausmädchen bei einer wohlhabenden saudischen Familie in Dschidda. Laut Sarg-Etikett heißt sie Aurora Cabahug. Was aber nicht stimmen kann, wie Polizist Walter Zamora sofort weiß, als er den Auftrag bekommt, den Sarg aus Manila abzuholen. Denn noch am vorherigen Abend hat er Aurora in einer Bar gesehen, in der sie als Sängerin auftritt. Quicklebendig.
Sie hatte eine gute Nacht gehabt, sich zwischen den Auftritten an den Tischen vergnügt, hier eine Rum Cola und da einen Four Seasons getrunken. Er hatte ihr drei Tage zuvor selbst einen Drink spendiert, als Mutprobe sozusagen, und er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er mit so einem Zahnstocher-Sonnenschirm serviert wurde, an dessen Ende eine Kirsche aufgespießt war. Als sie die Kirsche in seinen statt ihren Mund steckte, bekam er diese Geste mit dem ungewohnten Geschmack nur schwer in Einklang, und sein Unbehagen musste offenkundig gewesen sein, denn schallendes Gelächter breitete sich am Tisch aus. Dann erhob sie sich für ihren nächsten Auftritt und ließ den Drink für den Rest des Abends unberührt.
So geht er los, der Krimi „Last Call Manila“ von Jose „Butch“ Dalisay, 69 Jahre alt, ein philippinischer Großautor, der zugänglicherweise auf Englisch schreibt und trotzdem erst jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Endlich! Denn die Philippinen werden bei uns literarisch kaum beachtet. Und das obwohl auf den mehr als 7.000 Inseln des Archipels über 100 Millionen Menschen leben, davon allein rund 20 Millionen in der Region Manila, auch Jose Dalisay selbst. Sollte man also mehr drüber wissen!
Als Leseeinstieg eignet sich „Last Call Manila“ hervorragend: Denn der Roman erzählt nicht nur eine Kriminalgeschichte – die ist tatsächlich nicht viel mehr als der lockere Knoten, der eine Handvoll äußerst lebendig gezeichneter Figuren miteinander verknüpft –, sondern er entfaltet darüber hinaus ein so intensives Panorama der philippinischen Gesellschaft, dass der Roman auch als Sozialreportage gelesen werden kann.
Da waren Haushaltshilfen, Köche, Fahrer, Tänzer, Klempner, Konstrukteure, Schweißer, kräftige Seeleute und andere Vertreter aller möglichen Dienstleistungen und Gewerbe, die ihre Küchen, Ställe, Klassenzimmer, Fruchtstände, Videoke-Bars, Schuh- und Gummifabriken verlassen hatten auf der Suche nach besseren Jobs – auf tobender See oder brennendem Sand, von Singapur bis Stockholm, London bis Lagos, Riad bis Reykjavik, in zwielichtigen Kaschemmen und auf Bohrinseln, in Pflegeheimen und Konservenfabriken, Welle um Welle über all die Meere und Ozeane hinweg, die ihre Inseln umschlossen.
Im Zentrum steht Aurora, die echte Aurora. Die Schwester der Toten im Sarg. Sängerin in einer Bar, 21 Jahre alt, beliebt vor allem bei koreanischen Ingenieuren. Eigentlich sollte sie studieren. Dafür überwies ihre Schwester regelmäßig Geld. Zuerst aus Hongkong, dann aus Dschidda. Dass sie Soledad hieß, Einsamkeit, ist sicherlich kein Zufall. Nun ist sie in Dschidda ertrunken. Beziehungsweise: Man fand sie im Wasser treibend. Wie sie dort landete? Das müsste geklärt werden. Doch wer kümmert sich schon um so ein Hausmädchen, das ihrer jeweiligen Herrschaft den Reisepass abgeben muss und nachts neben dem Wäschetrockner schläft? Moderne Leibeigenschaft.
Auch Provinzcop Walter kann da kaum etwas beschicken. Nur der allwissende Erzähler blickt in eingeschobenen Kapiteln auch mal nach Hongkong und nach Dschidda und weiß daher etwas mehr, als Walter und Aurora je herausfinden könnten. Die Turbulenzen in der Story erwachsen daher eher aus Kleinkriminalität und Wurschtigkeit vor Ort: Leichenverwechslung am Flughafen, Autoklau und Telekommunikationsprobleme. Im Grunde ist „Last Call Manila“ ein Krimi der Machtlosigkeit. Ein philippinischer Nicht-Krimi geradezu. Was scharfsinnig ist.
„Hilfst du mir?“, fragte sie unvermittelt.
„Helfen bei was?“
„Herauszufinden, warum sie gestorben ist. Ich meine, wurde sie gestoßen, ist sie gestürzt, gesprungen, sowas. Du bist Polizist, oder nicht?“ Walter konnte die Frustration in ihrer Stimme hören.
„Ja – ich bin nur ein einfacher Polizist, weißt du –, aber natürlich helfe ich dir so gut ich kann – wie jetzt gerade…“
„Nein, nein, das meine ich nicht, ich brauche keinen Fahrer – versteh mich nicht falsch, ich weiß das zu schätzen, wirklich, aber – ich brauche jemanden, der mir die Wahrheit sagt.“ Ihre Hände suchten nach etwas, woran sie sich festhalten konnten, Walter hatte Sorge, dass sie auf die Sonnenblende einschlagen würde, aber sie hielt kurz inne, ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder und legte sie langsam zurück in den Schoß wie heimkehrende Vögel.
Der Roman erschien auf Englisch bereits 2008. Das merkt man vor allem daran, dass man sich noch Telegramme und Briefe schickt und öffentliche Münzfernsprecher ansteuert. Nur wenige Figuren haben bereits ein aufklappbares Nokia-Handy. Die Sargabholer Walter und Aurora gehören nicht dazu, und so basieren einige der Komplikationen in diesem Roman auf missglückter Kommunikation. Wie sowas wohl auf lesende Mittzwanziger wirkt, die kein Leben ohne Mail und Handy kennen? Veralten Krimis aufgrund von sich rasant wandelnder Ermittlungstechnik immer schneller?
Ganz und gar nicht veraltet aber sind Thema und Ton. An der Situation der „Overseas Filipino Workers“, wie die Millionen Arbeitsmigranten der Philippinen heißen, hat sich in den letzten fünfzehn Jahren wenig verändert. Allein in Saudi-Arabien arbeiten aktuell etwa eine halbe Million von ihnen. Bei Jose Dalisay liest man aber nicht nur, wie es ihnen dort ergeht, sondern auch welche Löcher es zuhause reißt, wenn sie nicht mehr da sind. Trotzdem ist „Last Call Manila“ alles andere als eine Tirade, sondern unglaublich bunt, sprachlich frisch übersetzt und teils sogar richtig witzig. Das liegt an Dalisays spitzen Figurenzeichnungen, seinen detailreichen Milieuschilderungen und seinem Sinn für kleine Absurditäten. Ein geradezu unterhaltsamer Mix aus journalistischer Analyse und feinstrichiger Malerei.