Der Skandinavist Klaus Böldl hat eine kritische Rezeptionsgeschichte des „dunklen Gottes“ Odin, Vater der nordischen Götter und germanische Urgestalt, geschrieben.
Wotan ist en vogue, nicht nur bei Neuheiden, mythensüchtigen Rechtsextremen, martialisch auftretenden Metal-Bands oder Männern auf der Suche nach antifeministischen Konzepten von Maskulinität. Gegen die simplifizierenden Vereinnahmungen hat der Skandinavist Klaus Böldl seine Geschichte des „dunklen Gottes“ von den Wikingern bis in die Gegenwart geschrieben.
Deutlichere Gestalt nimmt Odin oder Wotan in der „Edda“ und der isländischen Saga-Literatur des Mittelalters an. Hier begegnen erstmals die Züge der heute bekannten Ikonographie:
Odin als Oberhaupt der heidnischen Götterwelt ist für Böldl aber – wie überhaupt der zugespitzte Gegensatz von „nordischen“ und klassisch-mediterranen Mythen – ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Zuvor war Odin gewissermaßen integriert in die gesamteuropäische Mythenwelt, bisweilen gleichgesetzt mit Odysseus, dem griechischen Okeanos oder gar dem fernöstlichen Buddha.
Völkischer Sturm- und Rauschgott
Erst im Zuge des wachsenden Nationalismus wurde der Gott zum Repräsentanten eines völkisch durchsäuerten Germanentums, das man in der Nachfolge von Tacitus‘ grundlegender Schrift „Germania“ so charakterisierte: rückständig, was Zivilisation und materiellen Wohlstand betrifft, dafür moralisch integer, freiheitsliebend, tugendhaft und tapfer.
Odin und die „Edda“ wurden zu einem essentiellen Mythos der Deutschen. Böldl skizziert und zerlegt die obsessiven Vereinnahmungs-Bemühungen der Historiker, Philologen, Theologen und Ideologen.
So erkannte zum Beispiel auch der Tiefenpsychologe C.G. Jung in Wotan eine „Grundeigenschaft der deutschen Seele“ und sah den „Sturm- und Rauschgott“ im Nationalsozialismus wiederkehren – die politisch Verantwortlichen duften sich entlastet fühlen.
Wagners gebrochener Wotan
Anders als Thor mit dem Hammer ist Wotan jedoch kein eindimensionaler Held. Das zeigt insbesondere die wirkmächtigste aller Aneignungen. In Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ hat der Herr von Walhall nichts mehr mit dem makellosen Göttervater der idealisierenden Tradition zu tun.
Wagner zeichnet ihn als gebrochene Gestalt; sein Wotan ist kein Kämpfer, sondern setzt wie ein Agent der Moderne auf Verträge, die er allerdings wie Waffen zu nutzen versteht, ein Intrigant und Betrüger sondergleichen.
Klaus Böldl beschäftigt sich mit Odin in Musik, Bildnis und Skulptur. Der Untertitel „Von den Germanen bis Heavy Metal“ ist zugkräftig, allerdings ist von der Rezeption im Metal, beginnend mit Led Zeppelins „Immigrant Song“, nur auf drei Seiten die Rede – mit dem Tenor, dass die Bands meist nur mythologische Klischees reproduzierten und der heidnische Gott instrumentalisiert werde für einen etwas angestaubten Protest gegen das Christentum. Darin zeige sich allerdings ein Moment vieler heutiger Odin-Bezüge:
Protest gegen das Christentum
Böldl ist nicht nur Professor für skandinavische Literatur, sondern auch Verfasser mehrerer Romane. Er kann klar und unakademisch schreiben, und seine Kenntnis der Materie ist überragend.
Vielleicht ist gerade dies aber auch der Grund dafür, dass sich sein Odin-Buch streckenweise wie ein Forschungsbericht liest. Sie läuft auf die Einsicht hinaus, dass jede Epoche ihr eigenes Odin-Bild entwirft und gerade dadurch den Mythos des „dunklen Gottes“ fortschreibt.
Mehr Literatur zu Mythologie und Götterwelt
Was macht die Mythen relevant? Mit Göttinnen auf Monsterjagd – Antike Mythen in der Jugendliteratur
In Jugendbüchern trendet die Antike: Der Held in „Percy Jackson“ ist der Sohn von Poseidon, die Heldin in den „Tributen von Panem“ eine moderne Artemis mit Pfeil und Bogen.
Gespräch Auf den Spuren der „Edda" in Island
Die „Edda" aus dem 13. Jahrhundert gilt als wichtigste Textsammlung für nordische Götter- und Mythenerzählungen. In Island kann man sich - in einer spektakulären literarischen Landschaft - auf die Spuren der Edda begeben. Ein Reisebericht.
Anja Höfer im Gespräch mit Wolfgang Hörner (Galiani Verlag Berlin).
Buchkritik Gerd Schwerhoff - Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie
Lange hielt man sie für ein Relikt aus dem Mittelalter, doch spätestens seit dem Streit um die Mohammed-Karikaturen scheint sie lebendiger denn je: die Blasphemie. Gerd Schwerhoff hat die Geschichte der Gotteslästerung von der Antike bis ins Social-Media-Zeitalter verfolgt.
Rezension von Oliver Pfohlmann.
S. Fischer Verlag, 528 Seiten, 29 Euro
ISBN 978-3-10-397454-6