Buchkritk

Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben

Stand
Autor/in
Andrea Gnam

Unsere Vergangenheit sollte uns nicht lähmen, sondern wir können sie als einen Erfahrungsschatz betrachten, der uns auch in seinen negativen Seiten über das Erinnerte hinauswachsen lässt.

Wir alle sind Kinder und Erbe unserer eigenen Vergangenheit. Wie wir das Erbe antreten, was wir davon beibehalten oder weiterführen möchten, und welche Erlebnisse wir großzügig hinter uns lassen sollten, ohne sie zu verdrängen, das können wir ein Stück weit auch selbst bestimmen.

Auch wenn uns das nicht immer einfach erscheint. Dabei helfen uns, so Charles Pépin, die verschiedenen Formen des Gedächtnisses, die jeweils unterschiedliche Funktionen innehaben. Das Gedächtnis wird von Neurowissenschaftlern schon lange nicht mehr als Speicher oder lokalisierbare Gedächtnisspur betrachtet. Vielmehr formt sich die Erinnerung immer wieder neu und verändert sich damit. 

Die Erinnerung wird gleichsam neu konfiguriert: durch das seitdem Erlebte, durch den aktuellen Kontext, durch unsren emotionalen Zustand. In diesem Sinn ist das Gedächtnis lebendig und eine Erinnerung ist nie zweimal dieselbe.

Ist es also möglich Belastendes, von uns zutiefst Abgelehntes, ja Beschämendes, das wir erlebt haben oder das unsere Herkunft mit sich bringt, zum Material zu erklären? Pépin zieht für seine Überlegungen auf nachvollziehbare Weise philosophische und literarische Erkundungen, besonders von Henri Bergson und Marcel Proust zu Rate, aber auch grundlegende neurowissenschaftliche Erkenntnisse. 

Belastete Kindheit, glückliche Lebenswege 

Ist man in der Lage, das Erlebte zu einer Geschichte werden zu lassen, deren Autor wir selbst sind und die uns weniger zusetzt, oder wie es in der hier wohl recht wörtlichen Übersetzung heißt, die uns nicht mehr „ständig beißt“?

Sie wäre damit dann auch vom „episodischen Gedächtnis“, das uns einzelne Szenen vor Augen führt, ins „semantische Gedächtnis“ überstellt. Dort kann unsere Geschichte überarbeitet werden, denn hier geht es um Bewertung und Einordnung des Geschehenen.  

Pépin beschreibt glückliche Lebenswege, die Menschen trotz ihrer belastenden Kindheit oder Lagererfahrungen eingeschlagen haben. Sie sind möglich, weil wir zwar das sind, was die Vergangenheit aus uns gemacht hat, aber wie er aufmunternd sagt: „Wir haben keinen Grund, uns von unserer Vergangenheit alles gefallen zu lassen.“

Das mag ein Stück weit gelingen oder auch nicht. Für jeden zugänglich und mit weniger Kraftanstrengung verbunden ist indes, zu genießen und wertzuschätzen, was der Zufall uns an Begegnungen und glücklichen Momenten für unser Leben geschenkt hat. 

Die Schönheit der Erinnerung 

Ganz konkret heißt das auch, zum Beispiel als allein zurückgelassener Liebender oder alternder Mensch, nicht länger dem nachzutrauern, was wir einst besaßen und dann verloren haben, sondern uns mit Freude daran zu erinnern, dass es möglich war und wir diejenigen sind, die es selbst erleben durften.

Es heißt also, sich intensiv auf die Schönheit der Erinnerung einzulassen, in ausgewählte Bilder und Szenen einzutauchen, sie ganz ohne Wehmut zu betrachten:  

Letztendlich geht es auch hier um eine Verabredung mit unserer Vergangenheit, aber diesmal nicht, um ihre Brutalität zu mildern, sondern im Gegenteil, ihre Zartheit neu zu erleben, ihr Bestes auszukosten. Es ist eine Art Würdigung dessen, was gewesen ist. 

Seien wir deshalb nachsichtig mit uns selbst und den anderen: Wir sollten dem, was wir geworden sind, mit Wohlwollen begegnen. Das reicht bis hin zum Umgang mit unseren Toten, die uns, wenn wir an sie denken, mit „behütender Präsenz“ umgeben können.

Und so heißt es dann auch gegen Ende des Buches geradezu verschmitzt, aber eben durchaus auch charakteristisch für die Lebensphilosophie Pépins:  

Wer möchte, dass die Geister der Verstorbenen ihn gelegentlich besuchen kommen, muss ihnen ein bisschen Luft und Freiheit lassen.

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