Am 22. Dezember 1939 ereignete sich in der Kleinstadt Genthin, 100 Kilometer westlich von Berlin, das bis heute schwerste Zugunglück in Deutschland. Ein aus Berlin kommender Reisezug fuhr in der eiskalten Nacht auf einen kurz vor dem Bahnhof von Genthin stehenden Personenzug auf. Der stehende Zug war im vorweihnachtlichen Reiseverkehr hoffnungslos überfüllt. Selbst der angehängte Paketwagen war mit Passagieren vollbesetzt. Mindestens 186 Menschen starben.
Gert Loschütz wurde 1946 in Genthin geboren. Das verbindet ihn mit dem Ich-Erzähler seines neuen Romans „Besichtigung eines Unglücks“.
Vandersee, so heißt er, macht sich an die Rekonstruktion der Katastrophe, stöbert in Archiven, liest Zeugenaussagen und Polizeiprotokolle, versucht sich ein schlüssiges Bild der Ereignisse zu machen und stößt dabei immer wieder auf Lücken, die nur mit Mutmaßungen zu füllen sind.
Loschütz‘ Verfahren ist eine Suchbewegung. Seine Sätze tasten sich voran. Und wie schon in vorangegangenen Romanen gelingt es ihm, das vermeintlich Unzusammenhängende elegant in Beziehung zueinander zu setzen: Die Vaterlosigkeit des Ich-Erzählers, eine mögliche Liebesgeschichte zwischen einer deutschen Halbjüdin und einem italienischen Vertreter, die bei dem Unglück ums Leben kamen, und die Biografie seiner eigenen Mutter.
Es geht um den Zufall, von dem alles abhängt, und darum wie Dinge unsichtbar miteinander zusammenhängen.