Literatur

Deutscher Buchpreis an Antje Rávik Strubel für ihren Roman „Blaue Frau“

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Antje Rávik Strubel erhält den Deutschen Buchpreis 2021 für ihren Roman „Blaue Frau“. „Mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision schildert Antje Rávik Strubel die Flucht einer jungen Frau vor ihren Erinnerungen an eine Vergewaltigung. Schicht um Schicht legt der aufwühlende Roman das Geschehene frei“, heißt es in der Jury-Begründung.

Kommentar von SWR2 Literaturredakteur Alexander Wasner zum Deutschen Buchpreis an Antje Rávik Strubel

Antje Rávik Strubels Buch ist das einzige Buch aus dem Herbstprogramm deutschsprachiger Verlage auf der diesjährigen Shortlist. Das war im September die Überraschung der diesjährigen engeren Auswahl zum Deutschen Buchpreis. Fünf Bücher aus dem Frühjahr – und dafür bleiben Eva Menasses „Dunkelblum“, Sven Regeners „Glitterschnitter“ und Juli Zehs „Über Menschen“ aus dem Rennen um den Buchpreis ausgesperrt, während sie die Bestsellerlisten sehr erfolgreich stürmen.

Kritik und Buchhandel liegen in ihren Einschätzungen oft weit auseinander. Vielleicht war der Erfolg von Zeh, Regener und Menasse Schuld daran, dass man über die längst rezensierten und oft auch schon verkauften Frühjahrstiteln dieser Shortlist wenig redete. Kurz: Es war etwas still um den Buchpreis in diesem Jahr.

Die Bücher auf der Shortlist

Aber die Auswahl war breit und die Bücher machen Spaß, es lohnt sich, sie noch einmal aufzuzählen, ihnen gebührt ein gewisser Ensembleschutz.

Das schöne Leben in Armut beschwor in einer dadaistisch-fröhlichen Reise Thomas Kunst in den „Zandschower Klinken“. Dann gab es den selbstironisch-identitätspolitischen College-Roman „Identitti“ von Mithu Sanyal. Norbert Gstreins „Der zweite Jakob“ das ist ein biographisches Verwirrspiel mit Abgründen. Christian Krachts „Eurotrash“ erzählt die verzweifelt-zärtliche Taxireise eines weltüberdrüssigen Erzählers mit der dementen Mutter. Und zum Schluss sei erwähnt Monika Helfers Beschreibung des Fremden in der Familie, den sie „Vati“ nannte.

Bücher können Orte sein von „Irritation und Wagnis“

Das gibt einen Einblick, was Romane alles können. Dass Antje Rávik Strubel jetzt mit „Blaue Frau“ den Preis bekommen hat, ist eine Entscheidung dafür, dass Bücher auch Orte sein können von „Irritation und Wagnis“, den Begriff hat die Autorin selbst benutzt in ihrer Dankesrede.

Antje Rávik Strubel beschreibt in „Blaue Frau“ die Traumatisierung einer jungen Tschechoslowakin. Am Anfang erleben wir sie in einem Plattenbau in Helsinki, dahin hat sie sich zurückgezogen. Nach und nach erfahren wir, dass sie aus der Tschechoslowakei geflohen ist, dass sie dann in Deutschland vergewaltigt wurde, als sie ein Praktikum in der Uckermark gemacht hat.

Blaue Frau: „Ein Buch von existenzieller Wucht“

Die Geschichte ist tragisch, beklemmend, „ein Buch von existenzieller Wucht“, meinte die Jury des Deutschen Buchpreises. Diese Wucht empfindet man, weil Antje Rávik Strubel eine Sprache für die posttraumatische Empfindung ihrer Heldin gefunden hat. Deren erzwungene Sprachlosigkeit wird in Blicke, Gefühlsäußerungen und Erfahrungen umgesetzt. Jeder Ort, an dem sie sich aufhält, wird unsicher, gefährlich, unklar. Und das überträgt sich auf mich als Leser.

Mit der Tat selbst geht Antje Rávik Strubel dabei sehr diskret um, den Begriff verwendete sie in einem Einspielfilm: Dabei hilft ihr die rätselhafte Figur der titelgebenden blauen Frau. „Literatur ist eine fragile Gegenmacht gegen die Gewalt“, auch das hat die Jury gesagt. Und damit dem Deutschen Buchpreis fast nonchalant die Rolle gegeben, die er haben sollte. Bücher als Kunstwerke in eine Welt zu setzen, die sie braucht, um an ihnen entlang ihre brennenden Fragen zu diskutieren.

Antje Rávik Strubel erzählt mehr als nur ein Einzelschicksal

Antje Rávik Strubel nannte das in ihrer kurzen Rede einen „ästhetischen Spielplatz“, damit knüpft sie an alte Vorstellungen an und baut sie gelungen für die Moderne um. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch wo er spielt“ – den Satz hat Friedrich Schiller seinem Herrscher gesagt, Politiker tun heute gerne so, als hätten sie davon schon mal gehört, und wüssten wie wichtig Kunst und Kultur sind.

Dieser Spielplatz, ist eine hochpolitische Angelegenheit. Antje Rávik Strubels Buch strahlt das aus. Hier geht es nicht um ein Einzelschicksal. Die Tschechoslowakin, die in der Uckermark traumatisiert wird und in Helsinki strandet, reist damit im noch immer sehr deutlich spürbaren Graben, der Europa in Ost und West trennt.

Das Leben der Heldin ist prekär

Ihre Geschichte ist die einer Frau, die durch politische und gesellschaftliche Verhältnisse ausnutzbar geworden ist. Auch von dem professoralen EU-Abgeordneten, mit dem sie sich einlässt. Qua Geschlecht, qua Herkunft ist ihr Leben prekär. Und das überträgt sich auf alles, was sie erlebt, sogar den Naturschilderungen ist es eingeschrieben. 

„Blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel ist eine interessante Wahl.

Jury für den Deutschen Buchpreis 2021
Die Jury für den Deutschen Buchpreis 2021 - v.l.n.r.: Sandra Kegel, Anja Johannsen, Beate Scherzer, Anne-Catherine Simon, Richard Kämmerlings, Bettina Fischer, Knut Cordsen

Die Begründung der Jury

„Mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision schildert Antje Rávik Strubel die Flucht einer jungen Frau vor ihren Erinnerungen an eine Vergewaltigung. Schicht um Schicht legt der aufwühlende Roman das Geschehene frei.

Die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung weitet sich zu einer Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern. In einer tastenden Erzählbewegung gelingt es Antje Rávik Strubel, das eigentlich Unaussprechliche einer traumatischen Erfahrung zur Sprache zu bringen.

Im Dialog mit der mythischen Figur der Blauen Frau verdichtet die Erzählerin ihre eingreifende Poetik: Literatur als fragile Gegenmacht, die sich Unrecht und Gewalt aller Verzweiflung zum Trotz entgegenstellt.“

Julia Schröder in SWR2 über den Roman "Blaue Frau" von Antje Rávik Strubel

Die sechs Bücher auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2021

Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den deutschsprachigen "Roman des Jahres" aus. 

Der Preis ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert: Der oder die Preisträger*in erhält 25.000 Euro, die übrigen fünf Autor*innen der Shortlist erhalten jeweils 2.500 Euro.

Die Longlist mit 20 Büchern wurde bereits im August vorgestellt:

SWR Literaturredakteur Alexander Wasner im Gespräch zur Longlist für den Deutschen Buchpreis 2021

Jury-Sprecher Knut Cordsen:

„Als Jury hatten wir in diesem Jahr so viele Titel zur Auswahl wie bisher nie beim Deutschen Buchpreis. Ein Viertel davon waren belletristische Debüts, ein breites Bouquet neuer literarischer Stimmen. Die Jury freut sich, mit der Longlist eine Auswahl getroffen zu haben, die das erzählerische Experiment ebenso würdigt wie den realistischen Roman, das Komische wie das Surreale. Diese 20 Bücher nehmen Herkunft und Geschichte ebenso in den Blick wie zentrale Fragen der Gegenwart.“

SWR2 Buchbesprechungen zu den Nominierten auf der Longlist

Gespräch Shida Bazyar - Drei Kameradinnen

Sie heißen Saya, Hani, Kasih und sind in Deutschland aufgewachsen. Aber ihre ethnische Herkunft und ihr „Anderssein“ sind immer Thema. Ein kluger und bewegender Roman über Freundschaft, Alltagsrassismus und rechten Terror.
Anja Brockert im Gespräch mit Maike Albath.
Verlag Kiepenheuer&Witsch, 352 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-462-05276-3

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Buchkritik Georges-Arthur Goldschmidt – Der versperrte Weg

In seinem schmalen und ergreifenden neuen Buch erzählt der Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt die Lebensgeschichte seines älteren Bruders. Es ist ein Leben als permanente Identitätssuche.
Rezension von Christoph Schröder.
Wallstein Verlag, 20 Euro, 111 Seiten
ISBN 978-3-8353-5061-8

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Buchkritik Felicitas Hoppe – Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm

Das Nibelungenlied – eine Schatzgrube, in der seit rund 700 Jahre nach seinem Entstehen immer noch geschürft wird. Das Epos um Gold, Liebe, Verrat und Mord hat auch Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe zu einer Neuerzählung inspiriert. Intelligent, verspielt und mit feiner Ironie.
Rezension von Angela Gutzeit.
Fischer Verlag,256 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-10-032458-0

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Platz 9 (34 Punkte) Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks

Am 22. Dezember 1939 ereignete sich in der Kleinstadt Genthin, 100 Kilometer westlich von Berlin, das bis heute schwerste Zugunglück in Deutschland. Loschütz‘ Erzähler macht sich an die Rekonstruktion der Katastrophe. Regie führt der Zufall.

Platz 6 (33 Punkte) Ferdinand Schmalz: Mein Lieblingstier heißt Winter

Der Schauplatz des Romans ist Wien und in bester Tradition verbindet Schmalz Morbides mit Komik. In der Hitze des Sommers sprachmäandert sich ein Tiefkühlexperte durch ein skurriles Ambiente, das uns schnell so vorkommt als sei es normal.

Platz 8 (26 Punkte) Heinz Strunk: Es ist immer so schön mit dir

Aus allen Ecken dieses Romans schreit es „Midlife Crisis“. Ein Mann Mitte vierzig ist gelangweilt von seiner Beziehung. Strunks Konzentration auf die Innenansicht eines von Reflexen und triebgesteuerten Mannes in der Krise ist konsequent.

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SWR