Umfrage zur Lieblingslektüre

Seltene Einblicke – Der Koffer des DDR-Kulturministers Hans-Joachim Hoffmann

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AUTOR/IN
Silke Arning

Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach ist über ein Antiquariatsangebot auf einen spannenden Fund gestoßen. In einem Aktenkoffer befanden sich rund 300 Briefe an den ehemaligen Kulturminister der DDR Hans-Joachim Hoffmann, der in einer Umfrage verschiedenste Personen zu ihrer Lieblingslektüre befragt hatte. Die Antworten zeigen ein ungeschminktes Bild davon, was die Menschen gern lasen beziehungsweise welche Bücher sie gern gelesen hätten, wenn diese in der DDR erhältlich gewesen wären.

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Umfrage soll zeigen, was in der DDR gelesen wird

Es ist ein unscheinbarer brauner Kunstlederkoffer, an den Kanten schon etwas abgestoßen. Ulrich von Bülow vom Deutschen Literaturarchiv Marbach betätigt den Schnappverschluss: Das mit grünem Filz ausgeschlagene Innere wird sichtbar, zwei Fächer mit Lederschlaufen, um Stifte unterzubringen. 289 Briefe an den DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann steckten in diesem Aktenkoffer.

Es sind Antworten auf eine Umfrage: „Das ist so was ganz Ungewöhnliches eigentlich, was auch für die DDR ganz untypisch ist. Der Minister Hoffmann hat sich 1983 an 300 oder vielleicht auch mehr Personen gewendet mit der Bitte, sie sollten ihm schreiben, was sie gerne lesen, warum sie gerne lesen und so weiter. Das schreibt er hier im Anschreiben. Das steht alles im Zusammenhang mit dem sogenannten Leseland DDR. Die DDR war ja so stolz darauf, dass so viel gelesen wird. Und nun wollte der Minister Hoffmann eben empirisch erfahren, was genau gelesen wird“, erklärt Ulrich von Bülow.

„Eine kleine Kritik, aber nicht zu sehr“

Die Aufforderung ging an bewusst ausgesuchte, unterschiedliche Personen: an Jung und Alt, vom Dorf und aus der Stadt, an verschiedene Herkunftsgruppen und Berufe: Museumsdirektoren, Schauspieler, Autoren ebenso wie Kombinatsleiter, Wissenschaftler, Hochschullehrer, aber auch Schichtarbeitende. 

Interessant sei beispielsweise der Brief einer Frau, 50 Jahre alt und im Drei-Schicht-Betrieb an einem Rundstrickautomaten arbeitend, so von Bülow: „Sie sagt: Sie liest gerne Gartenliteratur. Sie liest gern oder hat gerade mit großem Gewinn gelesen: Ceram, Götter, Gräber und Gelehrte und interessiert sich jetzt für den Tibet. Und dann schreibt sie an den Herrn Minister: ,Diesen Winkel unserer Erde wenigstens auf dem Papier kennenzulernen, kann man durch das Buch.‘ Eine kleine Kritik, aber nicht zu sehr.“

Politisch korrekte Literatur

So unterschiedlich die Adressaten, so verschieden die Antwortschreiben: Viele handgeschrieben, andere mit Schreibmaschine oder mit offiziellem Kombinatsstempel.

Um zehn Titel hatte der DDR-Kulturminister Hoffmann gebeten. Nicht immer ist die Liste komplett. Viele Betriebsleiter nennen spezielle Fachliteratur, politisch korrekt ist auch das Kommunistische Manifest dabei, Offiziere lesen die Memoiren sowjetischer Heerführer. Manche biederten sich geradezu an, indem sie Honeckers Erinnerungen als Lieblingslektüre angeben, berichtet Ulrich von Bülow.

Koffer mit Briefen von DDR-Bürgern, die nach ihren Lieblingsbüchern gefragt wurden
Um jeweils zehn Lieblingstitel hat der DDR-Kulturminister rund 300 Menschen gebeten.

Christa Wolf und Günter de Bruyn sagen dem Minister, was sie gern lesen würden

Andere wiederum nutzten die Gelegenheiten, um dem Minister zu sagen, was sie gern lesen würden, aber nicht können, weil es nicht verlegt werde.

„Christa Wolf möchte zum Beispiel, dass mehr von Kafka erscheint.“

„Zum Beispiel schreiben so Christa Wolf und Günter de Bruyn – manchmal fast gleichlautend, so dass ich annehme, die haben sich vielleicht auch abgesprochen. Christa Wolf möchte zum Beispiel, dass mehr von Kafka erscheint. Da war bisher nur eine kleine Auswahl erschienen. Dann Peter Weiss, „Ästhetik des Widerstands“. Und dann eigentlich die westdeutsche Literatur, die bisher nicht erschienen war: Günter Grass, Botho Strauß, Uwe Johnson. Walter Benjamin möchte sie, Mitscherlich, Alice Miller und so weiter“, sagt von Bülow.

Tschingis Aitmatow ist der Favorit

Den einen großen Bestseller, den die meisten der 300 Befragten lesen, gibt es zwar nicht, aber zumindest doch einen deutlichen Favoriten: den kirgisischen Schriftsteller Tschingis Aitmatow. „Ich hab es nicht ausgezählt, aber er würde ziemlich weit vorne stehen“, sagt Ulrich von Bülow.

Magische Geschichten über Schönes und Böses Was machte den Schriftsteller Tschingis Aitmatow zum Lieblingsautor vieler DDR-Bürger?

In der DDR zählte Tschingis Aitmatow zu den beliebtesten Schriftstellern. Seine Novelle „Dshamilja“ war Schullektüre, auf einer Liste von Lieblingsbüchern der DDR-Bürger steht er ganz oben. Was machte den kirgisischen Autor so populär?

Ganz unterschiedlich auch der Ton der Antwortschreiben: respektvoll, nüchtern oder ganz locker. Die Anrede reicht von „Werter Herr Minister“ über den „Lieben Genossen“ bis zum vertrauten „Lieber Joachim“. Einer gibt sich bemüht originell, ein anderer nutzt die Gelegenheit sogar zur schnellen Denunziation eines Schriftstellers.

Was aus der Umfrage letztlich wurde, welchen Nutzen, welche Konsequenzen der DDR-Staatsminister aus den Rückmeldungen zog, ist unklar. Das muss jetzt die Forschung zeigen.

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Silke Arning