Eugen Ruge erzählt in "Metropol" auf bedrückend anschauliche Weise die Geschichte seiner Großmutter, die für den Geheimdienst der Komintern arbeitet und in Moskau Zeuge der stalinistischen Säuberungen wird.
Im Mittelpunkt steht dabei das legendäre und heute bei Reichen und Berühmten wieder beliebte Hotel Metropol, in dem in den 1930er Jahren Mitarbeiter des kommunistischen Parteiapparates leben und hoffen, nicht auch von Stalins Tscheka verhaftet zu werden.
Der Roman ist ein Lehrstück über Loyalität und Verrat in Zeiten der Diktatur, und die gewählte Form der biografischen Fiktion überzeugt, weil hier die Literatur der historischen Wahrheit näher zu kommen scheint als die bloßen Dokumente aus den Archiven, die wiederum dieses große Prosawerk erst möglich gemacht haben.
Aus Biografie wird Literatur
Das Familienleben Eugen Ruges ist auf leidvolle Weise mit den historischen Umbrüchen und dem politischen Terror im 20. Jahrhundert verbunden, und so wundert es nicht, dass dieser Schriftsteller die eigene Biografie auch in Literatur verwandelt.
Sein Vater, der DDR-Historiker Wolfgang Ruge, floh als junger Mann vor den Nazis in die Sowjetunion, wurde nach dem Angriff des NS-Regimes aber wegen seiner deutschen Herkunft erst nach Sibirien und dann in ein Straflager des Gulags in den Nordural deportiert.
Dort wurde dann auch Eugen Ruge 1954 geboren, der im Alter von zwei Jahren zusammen mit den Eltern nach Ost-Berlin ausreisen und eine Karriere als Historiker anstreben durfte. Sein DDR-Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" erhielt im Jahr 2011 den Deutschen Buchpreis.
Marx und Lenin schweben über dem Geschehen
Schon der Prolog des Romans ist auf mehrfache Weise unheimlich. Der Autor und Rechercheur Eugen Ruge betritt das "Russische Staatsarchiv für soziopolitische Geschichte", in dem früher das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus untergebracht war.
Die Namensgeber hängen noch als Bronzereliefs über dem Eingang, als Erinnerung und Warnung gleichermaßen. Die kafkaeske Welt im Gebäude scheint sich jedenfalls nicht geändert zu haben.
Verschlossene Dokumente erzählen geheimnisvolle Lebensgeschichten
Immer wieder öffnen sich neue Türen, es geht durch lange Gänge, vorbei an Wachhäuschen mit grimmig dreinschauenden Polizisten.
Viele Formulare müssen ausgefüllt, Gebühren bezahlt werden, damit Ruge endlich zu den Schließfächern gelangt, in denen Dokumente lagern, die bislang geheime und geheimnisvolle Lebensgeschichten erzählen.
Ruges Großmutter hütete jahrzehntelang ein Geheimnis
Eugen Ruge spricht seine Großmutter Charlotte direkt an. Der emotionale und anklagende Tonfall irritiert ein wenig, etabliert aber von Beginn an eine Spannung, die bei einer biografisch-historischen Erkundung nicht unbedingt zu erwarten ist.
Nach diesem Einstieg möchte man mehr darüber erfahren, was die Frau jahrzehntelang verheimlicht hat und was nun den Enkelsohn so empört. Von der Mutter seines Vaters wusste Ruge offenbar nicht viel.
Die Kaderakte wird zum Schlüssel zur Wahrheit
Nur dass sie eine Kommunistin gewesen ist, dass sie gerne von Mexiko erzählt hat und deshalb vom kleinen Eugen auch "mexikanische Großmutter" genannt wurde. Aber was sie in den 1930er Jahren in Moskau erlebt hat, blieb ein Geheimnis, das Ruge erst lüften konnte, als er die entscheidenden Papiere einsehen und kopieren durfte.
In der Kaderakte ist nachzulesen, dass Ruges Großmutter, die als Kommunistin vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen war, unter dem Decknamen Lotte Germaine für den Geheimdienst der Komintern gearbeitet hat.
Charlotte zeigte sich einst selbst an
Einige Blätter der Akte sind in "Metropol" abgedruckt. „Die wahrscheinlichsten Details sind erfunden“, schreibt Ruge, „die unwahrscheinlichsten aber sind wahr.“
Zu den unfassbaren Details gehört auch eine Selbstanzeige, zu der sich Charlotte genötigt sieht, weil sie einen Mann namens Alexander Emel gekannt hat, der bei einem der ersten Moskauer Schauprozesse auf der Anklagebank sitzt – was einem Todesurteil gleichkam.
Die Parteileitung soll wissen, dass Charlotte unschuldig ist
Um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, sie habe mit dem Verurteilten gemeinsame Sache gemacht, schickt Charlotte einen vierseitigen Brief an die Parteileitung, der mit diesen Zeilen schließt:
Historische Dokumente und biografische Elemente werden vermischt
Sehr geschickt mischt Ruge die historischen Dokumente mit der biografischen Erzählung, denn zuvor haben wir gelesen, dass Charlotte den ehemaligen Mitstreiter keineswegs für einen Verbrecher und Verräter hält.
Die Montage ist auch deshalb so kunst- und wirkungsvoll, weil sich der Erzähler in den fiktiven Passagen längst vom Groll des Prologs gelöst hat, weil er sich seinen Figuren durchaus empathisch nähert.
Besonders gut gelungen ist die Skurrilität des Wassili Wassiljewitsch
Nicht nur Charlottes Beweggründe werden plausibel geschildert, auch die Zweifel und Ängste der anderen zeithistorisch relevanten Personen werden anschaulich beschrieben.
Besonders gut gelungen ist die skrupellose Skurrilität eines an Dauerdurchfall leidenden Wassili Wassiljewitsch Ulrich. Er fungiert bei den Schauprozessen als Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, und er ahnt durchaus, warum er diese Rolle zu spielen hat.
Auf Anweisung der Komintern folgt der Umzug ins Hotel Metropol
Weder Darmprobleme noch Inkompetenz haben diesem Mann geschadet, der bald hunderte Todesurteile an einem Tag unterschreiben und noch eine große Karriere im Sowjetreich vor sich haben wird.
Während die Säuberungen immer unberechenbarer werden, müssen Charlotte und ihr Mann Wilhelm auf Anweisung der Komintern in ein Hotel umziehen. Das Metropol ist eine „ausladende Jugendstilschönheit im Herzen der Stadt“, an der sich die Gäste aber kaum erfreuen können.
Das Metropol wimmelt vor Dauerbesuchern
Das Hotel lebt zunehmend von Dauerbewohnern, die für eine Übergangszeit einen Schlafplatz in der Stadt benötigen. Das können Leute wie der Schauprozess-Richter Wassiljewitsch sein oder Genossen, die in Ungnade gefallen sind und deren Schicksal noch unklar ist.
Die Fixierung auf die reine Lehre führt auf allen Seiten zu neurotischem Verhalten, bei den Opfern, die doch lieber auf der Täterseite stünden, und auch bei den Tätern, weil sie befürchten müssen, selbst Opfer einer Verleumdung zu werden.
Ruge steht auf der Seite der Menschen, denen Unrecht widerfährt
Es folgt eine Welle wahnhafter Selbstkritik, und bei der Lektüre des Romans stellt sich die Frage, was grotesker ist, die überlieferten Dokumente oder Ruges biografische Fiktionen, die doch so realistisch erscheinen.
So fremd die Ansichten, so abstoßend die Handlungen der Figuren auch gewesen sein mochten, wenn die Tschekisten zuschlagen, steht Eugen Ruge auf Seiten der Menschen, denen Unrecht widerfährt.
Nach 477 Tagen ist der Aufenthalt im Metropol vorbei
Ohne Pathos oder Besserwisserei. Ohne die sprachlich große Geste. Eugen Ruge, darin erkennt man seine literarische Kunst, findet für seine Szenen immer die richtige Tonlage.
477 Tage müssen Charlotte und ihr Mann im Metropol ausharren, und wie die Geschichte für die beiden ausgeht, darf nicht verraten werden. Denn der Roman ist ein Pageturner, selbst wenn er sich nicht auf das Spannungsmoment reduzieren lässt.
Ruge gelint mit Metropol ein Lehrstück über Loyalität und Verrat
Abgesehen davon, dass es sich bei dem Buch um ein atemberaubendes Stück Zeitgeschichte handelt, in dessen Mittelpunkt das legendäre und heute bei Reichen und Berühmten wieder beliebte Hotel Metropol steht, hat Ruge auch ein Lehrstück über Loyalität und Verrat in Zeiten der Diktatur geschrieben.
Die gewählte Form der biografischen Fiktion überzeugt, weil hier die Literatur der historischen Wahrheit näher zu kommen scheint als die bloßen Informationen aus den Archiven, die wiederum diesen großen Roman erst möglich gemacht haben.