Jahrhunderterwerb in unterirdischem Archiv
Selten präsentiert sich ein „Jahrhunderterwerb“ so unspektakulär: ein fensterloser, unterirdischer Raum, Neonlicht, kalte Metallregale mit meterweise grünen Archivkästen. Doch in den Boxen schlummern Geheimnisse, die die Literaturwissenschaftler schon heute andächtig den Atem anhalten lassen.
Literarische Zeitgeschichte in Briefen und Leserzuschriften
Ulrich von Bülow zum Beispiel. Behutsam, Blatt für Blatt, hat der Leiter der Marbacher Archivabteilung den Rilke Nachlass aus den Umzugskisten umgebettet und war völlig erstaunt: „Rilke hat alle Briefumschläge aufgehoben, auch Leserzuschriften usw., die andere Autoren eher wegwerfen. … die Briefe waren so gut erhalten, die hat selten jemand in der Hand gehabt.“
Fotos lassen die Welt von vor 100 Jahren wieder auferstehen
Einmal den Deckel einer Archivbox gelupft, scheint die Welt von vor 100 Jahren wiederaufzuerstehen. 1903 hält sich der Dichter zusammen mit seiner Ehefrau, der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff mehrere Monate in Rom auf. Ein altes, schon leicht verblichenes Schwarz-Weiß-Foto aus dem Nachlass erzählt von dieser Zeit.
Tagesschau-Bericht zum Rilke-Nachlass:
Korrespondenz mit Walther Rathenau
Aus einer weiteren Mappe, die Sandra Richter aus einer anderen Archivbox gezogen hat, sticht ein cremeweißer Briefbogen mit aufgedrucktem Wappen und ebenmäßig schöner Schrift hervor. Geschrieben von dem liberalen Politiker Walther Rathenau aus dem Grand Hotel Continental in München. Das war im Jahr 1915, der Krieg hatte schon begonnen. „Man vermutet nicht, dass er mit Rathenau korrespondierte“, so Richter. „Aber er war am Politischen durchaus interessiert, nicht nur an der Kunst.“
Tausende Briefe – Rilke war kein Einzelgänger
Man werde sicher noch etliche, weniger bekannte Seiten dieses Dichters entdecken, vermutet Sandra Richter. Stoff gibt es jedenfalls mehr als genug. 2500 Briefe hat Rainer Maria Rilke hinterlassen, über 6000 weitere hat er bekommen. Dabei gilt der Lyriker als Einzelgänger, der zurückgezogen gelebt habe, so die Marbacher Archiv-Chefin. Für sie scheint die umfangreiche Korrespondenz, die Rilke geführt hat, eher auf einen Menschen hinzudeuten, der in seiner Zeit gestanden und gelebt habe.
Aufarbeitung des Nachlasses wird Jahre dauern
„Und auch dieser Bestand ist hoch interessant. Denn es geht nicht nur um Rilke, sondern um einen ganzen riesigen Freundeskreis, Mäzenekreis, um ein Europa, das heute in dieser Form nicht mehr existiert. Ein Europa der Adligen und Wohlhabenden, das mit dem ersten Weltkrieg verschüttet worden ist. Dieses wiederzuentdecken ist jenseits von Rilke auch sehr reizvoll.
Konservierung, Aufarbeitung und Digitalisierung dieses umfangreichen Nachlasses werden wohl Jahre dauern, vermutet Sandra Richter, die noch immer mit seligem Blick die grünen Archivboxen betrachtet.