Die weiße Südstaatenfamilie Bryant gibt ein trübseliges Bild ab: Die Männer taumeln am Rande der Verwahrlosung entlang, die Frauen sorgen mit Mühe für das Lebensnotwendige. Großmutter Carolyn hingegen grübelt in stillen Momenten über eine alte Schuld. Der Weg zur Hölle scheint hier gebahnt, doch dann kommt auch noch ein Schuss Horror hinzu. Plötzlich liegt Daisys Mann im Hinterzimmer, mit eingeschlagenem Schädel, erwürgt mit rostigem Stacheldraht. Seine abgeschnittenen Hoden hält ein grässlich entstellter Schwarzer in der Hand, ebenfalls tot, allerdings schon sehr viel länger. Schauplatz ist ein kleines Nest im Mississippi-Delta mit dem kuriosen Namen Money.
„Was zum Geier geht hier vor?“, japst der Sheriff und dieser ratlose Ausruf erweist sich bald als ein Leitmotiv in Percival Everetts Roman „Die Bäume“. Denn der erste Mord ist nur der Anfang einer Serie, die den angereisten Detectives genauso rätselhaft wie gespenstisch erscheint.
Dieser Roman ist ein klassischer Krimi, ja, zugleich aber ist er viel mehr als das. Bald wird klar, dass es sich bei den bizarren Verbrechen um Racheakte für den Lynchmord an dem 14-jährigen Afroamerikaner Emmett Till handelt, der 1955 von Weißen, nämlich Carolyns Ehemann und seinem Bruder, erschossen und verstümmelt wurde.
Percival Everett betreibt in seinem Roman ein ebenso atemberaubendes wie grotesk gewagtes Spiel mit Fakten und Fiktionen. Der historische Fall von Emmett Till ist nach wie vor lebhaft in Erinnerung. Carolyn Bryant Donham, das reale Vorbild der gleichnamigen Romanfigur, hatte damals mit ihrer Behauptung, sie sei sexuell belästigt worden, den Anlass zum Lynchmord an dem schwarzen Jungen gegeben. Erst im August letzten Jahres scheiterte vor Gericht ein letzter Versuch, die inzwischen 89-Jährige dafür juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Nun hat es der Schriftsteller Everett übernommen, sie gleichsam literarisch zu richten, indem er sie durch einen tödlichen Schrecken ins Jenseits befördert.
Rache ist das zentrale Motiv in diesem Roman. Hier übt ein afroamerikanischer Schriftsteller im Raum der Phantasie Vergeltung für das tausendfache Unrecht der Lynchjustiz, das niemals gesühnt wurde.
Everett versteht es, durch den virtuosen Einsatz von Genreelementen, Situationskomik und pointenreicher Handlungsführung dem schweren Thema erzählerische Leichtigkeit zu verleihen, ohne dadurch dessen Wucht zu mindern. Seine Ermittlerfiguren vom bodenständigen Provinzsheriff über das coole, illusionslose Duo afroamerikanischer Detectives bis zur schlagfertigen schwarzen FBI-Agentin überzeugen als lebendige Charaktere, bei denen jeder Dialog wie ein rhetorisches Feuerwerk zündet.
Satirisch-phantastische Züge hingegen nimmt der Roman an, als sich der Rachefeldzug über das ganze Land bis zum schwadronierenden Präsidenten Trump im Weißen Haus ausdehnt. Plötzlich kehren die Lynchopfer als Untote und Zombies zurück und der Krimi dreht für Momente ins grelle Horrorgenre. Beklemmender Ernst wird hingegen bestimmend, wenn die Sängerin in einem Musik-Klub „Strange Fruit“ anstimmt, jenen erschütternden Song, der von den Gehängten an den Bäumen der Südstaaten erzählt. Das sind die Bäume, die der Romantitel anspricht. Dieser Roman ist schriller Krimi, historisches Schlaglicht und ein Epitaph für die Ermordeten zugleich - und das alles absolut überzeugend.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser Verlag, 368 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-446-27625-3