Moritz von Uslar hat sich noch einmal in die brandenburgische Provinz aufgemacht: Vor zehn Jahren erschien sein Reportageroman „Deutschboden“, in dem er von den Menschen in der Kleinstadt Zehdenick erzählte.
Als teilnehmender Beobachter hatte er sich vor allem unter die jungen Männer des Ortes gemischt. Im coolen Slang berichtete über ihren Alltag und ihr Denken. Jetzt hat Uslar das Experiment wiederholt.
Was hat sich in dem Ort in der Zwischenzeit verändert? Vieles. Vor allem ganz Rechtsaußen hat sich nochmal einiges getan.
Von Uslar ist profilierter Magazin-Journalist
Moritz von Uslar, geboren 1970 in Köln, gilt als einer der profiliertesten Magazin-Journalisten des Landes.
Er schrieb für die Zeitschrift Tempo, war Redakteur beim Magazin der Süddeutschen Zeitung und ist seit langem Autor der Wochenzeitung Die Zeit.
Sein Debütroman sorgte für Verwunderung
Legendär ist seine Interviewserie „100 Fragen an…“. Man könnte also sagen: Moritz von Uslar ist eine Edelfeder.
Umso verwunderter durfte man gewesen sein, als 2010 sein Reportageroman „Deutschboden“ erschien, in dem er beschrieb, wie er als teilnehmender Beobachter wochenlang in der brandenburgischen Kleinstadt Zehdenick lebte und in einem Rainald-Goetzhaften Ton vor allem über das alkoholgetränkte Leben der jungen Männer des Ortes schrieb.
Zehn Jahre später wiederholt von Uslar das Experiment
Einblicke in die ostdeutsche Seele. Der Titel übrigens bezieht sich auf ein Wohngebiet Zehdenicks. Genau zehn Jahre später wiederholte von Uslar das Experiment und machte sich nochmal auf in die Provinz, um zu erkunden, was sich in der Zwischenzeit verändert hat.
Vor allem ganz rechtsaußen hat sich nochmal einiges getan. Wenn der Autor nicht schon selber draufgekommen wäre, hätte man ihn drängen müssen, diesen Ort nach zehn Jahren noch einmal aufzusuchen – unter neuen Vorzeichen.
Die Methode bleibt gleich
Zehdenick revisited in Zeiten einer angespannten politischen Wetterlage, eines gewaltigen Rechtsrucks. Und nun will der Reporter etwas genauer wissen, was sich da in der letzten Dekade zugetragen hat.
Wieder mietet er sich für ein paar Monate in einem Hotel ein; wieder streift er umher zwischen den einschlägigen Orten einer Kleinstadt, den schon aus „Deutschboden“ bekannten Kneipen und der Dönerbude, der Tankstelle und privaten Wohnzimmern.
Er will herausfinden, ob „Hardrockhausen“ – so nannte er die Stadt seinerzeit vor zehn Jahren – noch immer rockt.
Der Roman soll die Abgründe unserer Zeit aufdecken
Von Uslar trifft auf seine alte Gang; auf die Brüder Raul und Eric, auf Vakka und auf Blocky, auf die Helden von damals und ein paar neue Klein- und Kleinstadtgeister, die ihm die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erklären helfen sollen.
Es geht, wie der Reporter sich vornimmt, um einen scharfen Blick „auf die Kaputtheiten und in die Abgründe unserer Zeit“, der in der Großstadt längst verstellt sei.
Was war der Unterschied meiner Recherchehaltung zur vor neun Jahren veröffentlichten Reportage? Na ja, ich hatte schon verstanden, dass die Feier und romantische Verklärung des Kleinstadt-Prolls, die im ersten Buch so exzessiv Thema und der Schmäh gewesen waren, als eine demonstrative Gedankenlosigkeit oder Denkverweigerung, man konnte auch sagen, als Feier eines Anti-Intellektualismus gelesen werden konnten. Darum war es mir natürlich nie gegangen, im Gegenteil (ich war ja Intellektuellen-Fan). Wer 2019 den Proll feierte, der musste auch sehen, dass die böse und asoziale Sprache längst von der politischen Rechten vereinnahmt worden war und dass diese Rechte, spätestens seit der Bundestagswahl 2017, erheblich an Macht dazugewonnen hatte.
Vor zehn Jahren war das Ausmaß des strukturellen Problems noch unklar
Von Uslar bekennt, dass ihm vor zehn Jahren schlicht die Fantasie gefehlt habe, dass der Flirt mit rechts nicht nur ein spätpubertäres Nachwendephänomen gewesen war, sondern doch eher ein strukturelles Problem, das uns nun ziemlich geballt vor die Füße fällt.
Mit der Demokratie scheinen viele im Osten nicht so recht warm geworden. „Nochmal Deutschboden“ ist in dieser Hinsicht weniger von einem brachialen Hedonismus geprägt wie noch der erste Teil der Reportage als vielmehr von einer durchaus besorgten Nachdenklichkeit.
Trotz wirtschaftlichem Aufschwung hat die Skepsis zugenommen
Obwohl es dem Ort wirtschaftlich besser geht als noch 2009, ist die allgemeine Demokratie-, Politik- und Europaskepsis stärker ausgeprägt als je zuvor.
Der Kontrast zwischen der Hübschheit des Ortes und dem erschöpften Aussehen vieler seiner Einwohner, das – Reporter-These – in vielen Fällen weniger Ausdruck einer wirtschaftlichen Krise war als einer kollektiven gesundheitlichen oder psychischen Destabilisierung (Mutlosigkeit, Desorientierung, Frustration), fiel noch augenscheinlicher aus.
Die Situationen werden für den Autoren zunehmend unangenehmer
Immer wieder gerät der Erzähler in Situationen, in denen er lieber weghören würde. Oder sich der Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst wird. Etwa, als er mit vier AfD-Politikerinnen und Politikern der Stadt versucht, ein Interview zu führen.
Dabei wird ihm das Dumme und Ärgerliche der Partei, wie er schreibt, drastisch vor Augen geführt.
Offen gelebte Ausländerfeindlichkeit ist in Zehdenick keine Seltenheit
Einmal will er mit einer schönen Bäckereiverkäuferin anbandeln – auch um den Eindruck ein wenig zu verwischen, dass der Reporter sich doch eher in einer machohaften Männerwelt bewegt.
Diese Annäherung endet rasch. Vor dem Geschäft geht ein junger Schwarzer mit Kopfhörern vorbei, was die Verkäuferin zu folgendem Kommentar provoziert:
„Was da draußen schon wieder für ein Gesindel unterwegs ist, wa?“ Der Reporter guckte. Katharina: „Ja, stimmt doch. Ich erkenne mein Land bald nicht mehr wieder.“
Und nun streckte sie sich, die Fäuste vor sich auf die Glasvitrine gelegt, bereit, jedem, der da ihren Laden betrat, ihre Meinung zu pauken: „Is' so!“
Der Reporter zieht resigniert ab.
Die AfD war bei der Europawahl in Brandenburg stärkste Partei
Es ist nicht so, dass es gar keine Hoffnungsschimmer gäbe: Von Uslar gelingt es, die SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley kurz vor der Europawahl nach Zehdenick zu locken.
Es kommt zu einer angeregten Diskussion zwischen der Politikerin und ausgewählten Bürgern. Die Wahl aber endet bekanntlich dennoch katastrophal für die SPD; in Brandenburg wird die AfD bei der Europawahl zur stärksten Partei.
Von Uslar wurde vorgeworfen, mit dem Nationalsozialismus „gekuschelt“ zu haben
Es gibt sogar ein Kapitel, das sich mit jenen Vorwürfen beschäftigt, die die in Zehdenick aufgewachsene Autorin Manja Präkels vor einigen Jahren gegen von Uslar erhoben hatte.
Sie warf ihm vor, er habe die Neonazis in seinem ersten „Deutschboden“-Buch verharmlost, mit Jungs gekuschelt, die einer Szene angehörten, die Anfang der 90er für den gewaltsamen Tod eine jungen Mannes aus der alternativen Szene verantwortlich gewesen sei.
„Nochmal Deutschboden“ ist eine politische Reportage
Man merkt, dass von Uslar diesmal genauer hinschauen und genauer hinhören will. Das Buch hat eine größere Bedächtigkeit und zugleich Dringlichkeit.
Von Anfang an ist klar, worauf „Nochmal Deutschboden“ zielt. Raul, der gute Geist des Ortes und ein Seelenverwandter des Reporters, weist den Weg:
Ist es geworden.
Von Uslar erzählt zwar offen, aber nicht wertfrei
Ein Buch über das Superwahljahr 2019 im Osten, über rechte Männer und deren Rituale, über archaischen Männlichkeitskult, die Gemütslage in den neuen Bundesländern und den Faschismus als eine Art brandenburgische Folkloreveranstaltung, die kaum jemand sehr befremdlich findet.
Dass man beim Lesen erschrickt und doch auch viele Zwischentöne wahrnimmt, sich fremd fühlt und mit manchen Protagonisten zugleich mitfühlt, hat mit von Uslars Erzählhaltung zu tun.
Die ist nicht wertfrei, aber offen; er hört zu statt sich zu empören, wozu er zuweilen Anlass hätte. Sein Ton ist schnoddrig, aber nicht mehr so sehr wie noch vor zehn Jahren.
Mit anderen Worten: Er nimmt die Zehdenicker nun richtig ernst, damit aber auch ihre Einstellungen. Verharmlosung zumindest kann man „Nochmal Deutschboden“ nun kaum mehr vorwerfen.
SWR2 lesenswert Magazin vom 13.04.2020 | Buchkritik Moritz von Uslar - Nochmal Deutschboden