Wie viel Bedeutung kann ein Apfelbaum tragen? Als Poeta Laureatus des literaricum in Lech schreibt Michael Krüger jeden Monat ein Gedicht zur Weltlage. Dieses Mal ist er inspiriert vom Obstbaumpflanzen – es geht um den Apfel.
Das fünfte Gedicht
Wir haben Bäume gepflanzt, Äpfel, alte Sorten,
die angeblich in Russland und im Kaukasus entstanden
und im Westen kultiviert wurden, von den Römern eingeschleppt und im ganzen
Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wegen ihrer Säure
geliebt. Äpfel mit Geschichte, die rot werden auf der Sonnenseite.
Wir mussten einen Sack um die Wurzeln schlagen,
um die Maulwürfe, die sich seit Plinius blind auf alles stürzen,
was ihnen im Wege steht, auf Distanz zu halten, und um den Stamm
haben wir eine Manschette gelegt, damit die Rehe den Baum
in Ruhe wachsen lassen. Wenn alles gut geht … werden wir
in fünf Jahren die ersten Äpfel ernten können. Die Vergangenheit
träumte von Ewigkeiten, wir hoffen darauf, einem Äpfelchen
beim Werden zusehen zu dürfen. Die Amseln freuen sich
über den Zuwachs von Grün, sie sausen wie dunkle Drohnen
über die mit Löwenzahn dekorierte Wiese. Bald werden Flugschirme
aufsteigen, dann ist die Zukunft erreicht. Es ist beruhigend,
vor den mickrigen Bäumen zu stehen, man stellt sich vor,
was aus ihnen werden kann, wenn der Ahorn ihnen nicht das Wasser
abgräbt. Jedes Blatt ist eine gewaltige Enzyklopädie, der Stamm
allein füllt Bände, die in einem Leben nicht auszulesen sind.
Dazu kommen die Bilder, auf denen die Toten lebendig werden,
die genau hier begraben sind oder verscharrt wurden.
Eine Spinne hat einen ersten Faden gespannt zwischen den Bäumen,
eine zitternde Brücke, so fein, dass sie keiner betritt:
kein Gedanke, kein Vogel, nicht einmal der Tod, der nicht aufhört
zu schwärmen von seinen großen Erfolgen. Unter der Brücke
wachsen die Gänseblümchen und die kleinen blauen Blumen,
die so aussehen wie Veilchen, aber schon lange keine Veilchen
mehr sind. Ein Bild geht mir nicht aus dem Kopf: die alten Generäle,
am 8. Mai auf dem Roten Platz, mit tausend Orden an ihre Stühle gekettet,
lederne Mumien, die dafür gesorgt haben, dass ich noch auf der Welt bin.
Boskop heissen die Äpfel, Boskop, ein schönerer Name war nicht drin.
Für Alexander Wasner
Gelesen vom Autor
Lyrik | Preis „Die Welt schmeckt jetzt anders“ – Michael Krüger als Poeta Laureatus
Der Krieg und die Dichter, das war immer ein Thema, seit Homer Troja besungen hat und Gryphius die Toten des 30jährigen Kriegs beklagten. Michael Krüger macht als Poeta Laureatus des literaricums im österreichischen Lech keine Ausnahme. Jeden Monat findet er Worte für das, was ihn beschäftigt: Amseln und Drohnen, das Alter und die Frage, was man mit Apfelbäumen aus dem Kaukasus machen sollte. Bei SWR 2 lesenswert und auf SWRKultur.de veröffentlichen wir die Gedichte und dazu Gespräche, die Michael Krüger und SWR2-Literaturredakteur Alexander Wasner monatlich führen.