Hilfeschrei in schöner Verpackung
Was für ein Schmuckstück von einem Buch. Es ist aufgemacht wie ein größerer Taschenkalender, mit farbigen Faksimiles auf jeder Seite, Lesebändchen, Fotos, Chronik, Anmerkungen. Freunde und Sammler werden begeistert sein. Doch ausgerechnet solch ein Prunkstück für diesen Inhalt? Was findet sich denn auf den Seiten?
In erster Linie schreit hier einer um Hilfe, ohne Rücksicht auf einen Adressaten. Schmerzen und Hunger, Alpträume und Ekel, Anbetungen von Gott und der Ehefrau Annemarie, die Heinrich Böll im März 1942 geheiratet hatte. Die Kriegstagebücher reichen vom Oktober 1943 bis zum September 1945, Böll war Mitte, Ende zwanzig. Die Schrecken des Krieges sind hier nur angedeutet. Doch die Verzweiflung, die Hilferufe, die Gebete und das ständige Anrufen von Gott sind Belege genug, um etwas von der Kriegshölle erahnen zu lassen.
Alltägliches Sterben
Böll, der seit August 1939 Soldat war, listet Tote und Verwundete auf, massenhaftes, ganz alltägliches Sterben: „Blut, Dreck, Schweiß und Elend der Verwundeten und Sterbenden“, notiert er im November 1943. Er deutet seine eigenen, insgesamt vier schweren Verwundungen an, „entsetzliche Schmerzen“, heißt es im Januar 1944, „vollkommene Nervenzerrüttung“. Er notiert die Entlausungen, die seelische und körperliche Not, die Wanzen, die Verelendung: „Die grausame Qual des Durstes“, heißt es im November 1943.
„Man möchte (…) manchmal wimmern wie ein Kind.“ – so lautet eine Eintragung, die zum Titel dieses Buchs geworden ist. Dann und wann nennt Böll seine Lektüre, Dumas‘ „3 Musketiere“ etwa oder Hans Grimms Roman von 1926, „Volk ohne Raum“, oder Dostojewskis „Idiot“ und „Der Spieler“. Aber nur in Ausnahmefällen fügt er einen Kommentar hinzu, wenn er zum Beispiel Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ im Juli 1944 mit dem Zusatz „ein tolles Buch“ versieht.
Wenig Politik
Tagelang finden sich nur noch pure Hilfeschreie: nach seiner Ehefrau, nach Gott, der ihm gnädig sein soll, nach einem Frieden, in dem die Angst vergehen werde. Es gibt wenig hoffnungsvolle Zeilen in diesen Notizen, selten einmal politische Bemerkungen, kaum ein Fingerzeig auf Debatten zwischen den Soldaten. Ob er nicht wagte, davon etwas ins Tagebuch zu schreiben? Wir erfahren es nicht.
Am 20. April 1944 versieht Böll den Eintrag „Geburtstag Hitlers!“ mit einem Ausrufungszeichen; drei Monate später heißt es: „Attentat auf Hitler während wir im Konzert sind“, und er unterstreicht diesen großgeschriebenen Satz.
Der Glaube an Gott
Über allem aber steht Bölls Gottesgläubigkeit und Gottesfurcht. Selbst als er Hitlers Tod am 2. Mai 1945 notiert, fügt er hinzu: „Gott sei ihm gnädig“. Wie prägend diese Jahre voller Leiden und Qualen im Krieg für Böll waren, wird aus einem Eintrag im April 1945 deutlich, wenige Tage vor Kriegsende: „Kälte, Elend und Hunger – Niemals im Leben vergessen und niemals einen Bettler wegschicken“. Doch einer der letzten Sätze vom September 1945 drückt völlige Erschöpfung aus: „Ich habe Angst vor dem Leben und stelle fest, daß ich die Menschen hasse!“
Vorwort des Sohnes
Im Vorwort deutet sein Sohn, der heute 69-jährige René Böll, an, wie er gerungen hat, dieses Fundstück zu veröffentlichen. Ob Heinrich Böll einer Veröffentlichung, zumal in dieser Form, zugestimmt hätte? Höchst fraglich!
Kurz gesagt: Ohne das Jubiläum des 100. Geburtstages wäre es gewiss nicht zu dieser Veröffentlichung gekommen. Wer mehr über die Kriegszeit und den Alltag als Wehrmachtssoldat erfahren möchte, sei auf die umfangreichen und detaillierten Kriegsbriefe Heinrich Bölls verwiesen. Diese liegen seit 2001 vor und umfassen zwei Bände.