Buchkritik

Patrick Modiano – Die Tänzerin

Stand
Autor/in
Tilla Fuchs

In seinem vierten Roman seit dem Literaturnobelpreis 2014 webt Patrick Modiano unbeeindruckt weiter an seinem Schreibprojekt, in dem jedes Buch ein neues Kapitel eines einzigen großen Romans zu formen scheint.

Im Paris der Tänzerin dämmert es. Stets herrscht das fahle, diffuse Licht später Herbst- oder früher Winternachmittage; Ein Licht wie in Wohnungen, deren Fenster zum Hof hinausgehen und die von zu schwachen Glühbirnen matt beleuchtet werden. Ein Licht, das aus der Vergangenheit stammt:

Manchmal findet man in Träumen das Licht jener Zeit wieder, genauso, wie es war, in manchen, ganz bestimmten Augenblicken des Tages.

Eine Reise in die 1970er

Ein Mann erinnert sich im Post-Covid-Paris der Jahre 2022/23, ein Ort, der ihm fremd ist, mit seinen Rollkoffer-ziehenden Touristen. Er taucht lieber zurück in die frühen 1970er Jahre, als er als junger Chansontexter und angehender Autor der Tänzerin begegnete.

Die „Mutter des kleinen Pierre“, wie sie auch genannt wird, trainiert täglich im Studio Wacker bei Boris Kniaseff und tanzt abends auf den Bühnen der Hauptstadt den „Rosenzug“ oder „Die Nachtwandlerin“. Der Erzähler ist eine typisch Modiano‘sche Figur, verträumt, unsicher, eher passiv.

Aber damals lebte ich in den Tag hinein, ohne mir Fragen zu stellen über all jene, mit denen ich durch Zufall in Berührung kam. Ich ließ mich treiben von der Strömung, ich machte den toten Mann.

Halt erfahren beide über die Kunst: Die Tänzerin in der ewigen Repetition derselben Übungen, der Erzähler, ihre Gründlichkeit imitierend, am Schreibtisch. Damit man „Ordnung in die Dinge bringt“, wie es ihr Ballettlehrer ausdrückt. Oder drastischer:

Der Tanz, sagte Kniaseff, ist eine Disziplin, und sie hilft dir, zu überleben.

Dass die Tänzerin keine leichte Vergangenheit hat, eine, die sie abstreifen möchte, wird nur angedeutet. Und warum ihr Sohn, der eines Abends an der Gare d’Austerlitz ankommt, weit entfernt von ihr gelebt hat, bleibt unklar:

Die Trennung musste lang gewesen sein, denn sie wußte nicht, was sie ihm sagen sollte.

Die Überwindung des Schmerzes eines kleinen Jungen

Der Erzähler, der das Kind ins Kino begleitet und manchmal früher von der Schule abholt, um ihm die Kantine zu ersparen - ein empathisches Augenzwinkern des internatsgeprüften Autors Patrick Modiano - knüpft ein dünnes Band zum kleinen, immer ein wenig verlorenen Pierre.

Manchmal redeten wir miteinander, Pierre und ich, donnerstags, wenn wir vom Kino nach Hause gingen. Ich versuchte zu begreifen, wie sein Leben ausgesehen hatte, bevor er eines Abends in der Gare d’Austerlitz eintraf.

Und manchmal empfindet der Erzähler selbst wie ein kleiner Junge, wenn er nachts fürchtet, die Tänzerin würde nicht mehr nach Hause kommen. Dann bleibt nur, sich an ihrer Disziplin festzuhalten. Die Tänzerin gelangt durch Überwindung des Schmerzes „il faut casser le coude“, wie es im Roman heißt – damit die Armbewegung so flüssig wirkt, als sei ihr Ellbogen gebrochen – zu großer Leichtigkeit.

Schreiben, als ob die Füße den Boden kaum berühren

Das erinnert an Modianos eigenes Schreiben, schwebend, als ob die Füße beim Gehen den Boden kaum berühren würden. Dabei verankert der Autor seine Handlung diesmal stärker: Auf seiner mit jedem Roman erneuerten Suche nach der verlorenen Zeit entwirft „Die Tänzerin“ ein Pas de deux aus erfundenen und realen Personen:

da ist der russische Tänzer und Choreograph Boris Kniaseff oder Maurice Girodias, legendärer Verleger und Pariser Nachtclubbesitzer. Die Hauptpersonen scheinen dagegen fluide, flüchtige Identitäten zu haben, die sich kaum verorten lassen:

Was war aus der Tänzerin geworden und aus Pierre und all jenen, deren Wege ich in derselben Zeit gekreuzt hatte? Diese Frage stellte ich mir oft, seit gut fünfzig Jahren doch bisher war sie ohne Antwort geblieben. Und plötzlich, an diesem 8. Januar 2023, schien mir das alles sei völlig unwichtig. Weder die Tänzerin noch Pierre gehörten in die Vergangenheit, nein, sie gehörten in eine ewige Gegenwart.

Die Erinnerung ist also kein „Lichtstrahl von einem längst erloschenen Stern“, wie der Erzähler zu Beginn des Romans mutmaßt, in einem kaleidoskopischen Rückgriff auf Modianos Debüt „Place de l’étoile“.

Das diffuse Licht der Erinnerung hebt die Figuren vielmehr auf in einer bernsteinfarbenen „ewigen Gegenwart“, betrachtet die Nachtwanderer wohlwollend, beinahe hoffnungsvoll. Als wartete am Ende der Dunkelheit ein Morgen.

Buchkritik Patrick Modiano – Unterwegs nach Chevreuse

In seinem 30. Roman „Unterwegs nach Chevreuse“ erzählt der französische Literatur-Nobelpreisträger eine schwebende Geschichte, in der sich Kindheitserinnerungen mit einem Kriminalfall verbinden.
Rezension von Christoph Schröder.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, 160 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-446-27407-5

Platz 1 (67 Punkte) Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte

Ein 20-Jähriger, der in den 1960er-Jahren auf die Suche nach einer verschwundenen Frau geschickt wird. Spuren, die im Nichts zu enden scheinen. Wie stets in den Romanen des Nobelpreisträgers ist die Stadt Paris die Bühne für das Geschehen.

Buch der Woche Patrick Modiano – Unsichtbare Tinte

Patrick Modianos 29. Roman „Unsichtbare Tinte“ ist ein Stück große Erinnerungsliteratur in der Tradition von Marcel Proust und zugleich eine hochspannende Detektivgeschichte.

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Tilla Fuchs