Jahrzehntelang hat die Witwe des 1975 frühverstorbenen Dichters und Kultautors Rolf Dieter Brinkmann den Nachlass ihres Mannes unter Verschluss gehalten. Nun aber konnten Michael Töteberg und Alexandra Vasa für die erste Brinkmann-Biografie endlich bisher unveröffentlichtes Textmaterial sichten. Und siehe da: Im so oft beleidigend auftretenden Wüterich steckte ein hochempfindsamer, hellsichtiger Genius.
Worüber kann man noch schreiben, was? Man macht die Augen auf und erschrickt
notiert der Kölner Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann im Mai 1971. Er hat zu diesem Zeitpunkt gerade einen Karriereabsturz hinter sich und steckt in der Schreibkrise fest. Dabei hatte doch alles so verheißungsvoll angefangen – für ihn, den 1940 in Vechta geborenen Provinzflüchtling.
Ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD
1962 von Dieter Wellershoff entdeckt, baute man Brinkmann beim Kiepenheuer & Witsch Verlag zunächst erfolgreich zur jungen, wilden Literaturstimme auf. Seine ersten zwei Erzählbände fanden sofort lobende Erwähnung bei Starkritikern wie Marcel Reich-Ranicki. Und auch sein Debütroman „Keiner weiß mehr“ über die Ehekrise eines jungen Paares erregte 1968 Aufsehen und wurde ein Bestseller.
Vor allem deshalb, weil Brinkmann darin sehr obszön-direkt über Sex geschrieben hatte. Damals ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD:
Es war, vom Verlag geschickt lanciert, ein Erfolg, dessen Schattenseite ein Image war, das der Autor so schnell nicht wieder loswurde.
Und in der Tat: Spätestens, als Brinkmann dann nur ein Jahr später, 1969, zusammen mit seinem Freund Ralf Rainer Rygulla die Anthologie ACID herausgab, war er auf die Rolle des Angry Young Man gebucht. Handelte es sich bei ACID doch um einen Sammelband mit Texten aus der anglo-amerikanischen Subkultur, in denen es ebenfalls schockierend vulgär um Sex und Drogen ging.
Pünktlich zur Hippie-Revolte wurde ACID zum Kultbuch – und Brinkmann zum Vorzeige-Rebellen einer neu ausgerufenen, deutschen Pop-Literatur. Ein Image, das ihm jedoch schon bald auf die Nerven ging. Entsprechend gereizt reagierte er bei Auftritten – und steigerte sich immer mehr in die Rolle des beleidigenden Wüterichs hinein. Bis er im November 1968 den Kritikern Rudolf Hartung und Reich-Ranicki bei einer Diskussion in Berlin sogar androhte, sie mit einem Maschinengewehr niederschießen zu wollen.
Gift und Galle
In seinem überschäumenden Zorn verlor Brinkmann irgendwann völlig die Fassung und den Überblick. Und schimpfte nicht nur böse gegen das Establishment an, sondern auch über jüngere Schreibkollegen, die Studenten-Bewegung – und sogar enge Freunde und Förderer wie seinen Verleger Reinhold Neven Dumont, der sich später erinnerte:
„An guten Tagen verbreitete [Brinkmann] Hohn und Spott, an schlechten Gift und Galle.“
Vasas und Tötebergs Biografie kann man nun als Versuch lesen, neben dem Wüterich Brinkmann wieder stärker das sensible und erstaunlich hellsichtige Genie sichtbar zu machen. Denn das war der große Alles-Beschimpfer aus Köln eben auch: Ein empfindsamer, hochbegabter und visionärer Autor, der auf der Suche nach neuen Erzählformen neugierig mit Foto-Collagen und Super-8-Filmen experimentierte, zugleich aber bereits vor der Manipulation durch die Massenmedien warnte.
Vorläufer der Autofiktionsromane
Im Versuch, seinen Alltag radikal subjektiv und möglichst unverfälscht mitzuschreiben, wirken Brinkmanns spätere Collage-Bücher Erkundungen oder Rom, Blicke geradezu irrwitzig aktuell – und lesen sich wie Vorläufer der heute so angesagten Autofiktionsromane.
Brinkmann weist in die Zukunft, dadurch, dass er zeigt, dass das Ich für immer gefährdet sein wird.
Erkannte darum schon Peter Handke 1979. Unterm Strich hätte man Brinkmanns erster, akribisch recherchierter Biografie zwar etwas mehr Mut der Verfasser zum eigenen Urteil gewünscht, das sie leider oft lieber Weggefährten des Autors überlassen. Insgesamt aber ist ihnen ein wichtiges, hochspannendes Buch gelungen.
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