Zu den persönlichsten Geschichten von Bestseller-Autorin Lily Brett gehört ihr autobiographischer Roman „Zu viele Männer“. Darin erzählt sie, wie sich eine Mittdreißigerin mit ihrem Vater, einem Holocaust-Überlebenden, in Polen auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln macht. Die deutsche Regisseurin Julia von Heinz hat ihr Buch unter dem Titel „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ verfilmt.
Komplizierter Vater-Tochter-Trip
Dieser Vater-Tochter-Trip in die Vergangenheit wird nicht einfach, das zeichnet sich schon in den ersten Minuten ab. Vater Edek weigert sich, in den von Ruth gebuchten Zug zu steigen. Lieber quatscht er am Flughafen einen Taxifahrer an, der sie die nächsten Tage herumkutschieren soll.
Und auch auf die verabredete Spurensuche im Łódź seiner Kindheit hat er plötzlich keine Lust mehr. Stattdessen schleppt er Ruth ins Chopin-Museum oder zum Warschauer Ghetto. Beziehungsweise zu der Stelle, wo es einmal stand.
Holocaust-Überlebender Edek will seine Vergangenheit vergessen
„Treasure“ spielt kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, im Jahr 1991. Noch erinnert keine einzige Gedenktafel an das Warschauer Ghetto. Und auch der Holocaust-Überlebende Edek will seine Vergangenheit am liebsten vergessen.
Zu groß ist der Schmerz, wenn er an die Vertreibung seiner Familie aus der Wohnung in Łódź denkt, an die Gefangenschaft in Auschwitz und die Angehörigen, die dort ermordet wurden. Nur widerwillig begleitet Edek Ruth zur KZ-Gedenkstätte.
Lena Dunham und Stephen Fry überzeugen als ungleiches Vater-Tochter-Gespann
Lena Dunham als überspannte Amerikanerin und Stephen Fry als lebenshungriger Exzentriker überzeugen als ungleiches Vater-Tochter-Gespann, das sich nach Nähe sehnt, aber seit Jahren aneinander vorbeiredet.
Fry stammt selbst aus einer Familie von Holocaustopfern und unternahm vor Jahren ebenfalls eine Spurensuche wie die in „Treasure“ gezeigte. Sein Schmerz bekommt dadurch etwas Autobiographisches. Er vermittelt überzeugend, warum es der Opfergeneration nahezu unmöglich ist, mit ihren Kindern über das Trauma des Holocaust zu sprechen.
Wie ein transgenerationales Trauma entsteht
Regisseurin Julia von Heinz erkundet mit ihrer Tragikomödie, wie verheerend sich dieses vermeintlich schützende Schweigen auf die nächste Generation auswirkt, wie ein transgenerationales Trauma entsteht. Als Ruth und Edek schließlich in dessen ehemaliger Familienwohnung den jetzigen Bewohnern gegenübersitzen, kann er sich der Macht der Erinnerungen nicht mehr entziehen.
Lily Bretts Romanvorlage wurde vorgeworfen, sie zeichne ein stereotypes, hasserfülltes Bild der Polen als raffgierige, verkommene Antisemiten. Die filmische Adaption „Treasure“ geht deutlich differenzierter vor. Die Kamera fängt triste Bilder eines vom Sozialismus völlig heruntergewirtschafteten Landes ein. Zudem trennt sich das Drehbuchduo Julia von Heinz und John Quester von den inneren Dialogen zwischen Ruth und dem Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß.
Konventionelle Dramaturgie scheitert an dem monströsen Schrecken des Holocaust
Der Film konzentriert sich ganz auf die Vater-Tochter-Geschichte. Diese erzählt er warmherzig, humorvoll und berührend, scheut sich aber, allzu tief in den Schmerz einzudringen. Mit melodramatischer Musik driftet „Treasure“ auch immer mal wieder ins Rührselige ab.
Die Tragikomödie lebt davon, wie sich Vater und Tochter aneinander abarbeiten. Den monströsen Schrecken des Holocaust kann sie mit ihrer konventionellen Dramaturgie aber nicht einfangen.
Trailer „Treasure- Familie ist ein fremdes Land“, ab 12.9. im Kino
Zeitgenossen | Zum Tod von Renate Lasker-Harpprecht Renate Lasker-Harpprecht: „Ich will mir nicht den Rest meines Lebens von Hitler diktieren lassen“
Renate Lasker-Harpprecht war Holocaust-Überlebende, die nach ihrer Maxime lebte: „Ich will mir nicht den Rest meines Lebens von Hitler diktieren lassen“. Die Journalistin und aufmerksame Beobachterin des Zeitgeschehens starb am 3. Januar 2021 in Süd-Frankreich im Alter von 96 Jahren.
Filme über den Holocaust
Der erste Comic über den Holocaust Arte-Doku über den Kult-Comic „Maus“ von Art Spiegelman – Immer noch ein Meilenstein
Der Comic „Maus – Geschichte eines Überlebenden“ von 1986 sei auch heute noch lesenswert. „Denn er erzählt die Schrecken der Shoah aus der Perspektive der Opfer.“
Eine bizarre Begegnung „Der Schatten des Kommandanten“: Die Nachkommen von Rudolf Höß treffen Auschwitz-Überlebende
Der Sohn und der Enkel des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß treffen in London die fast 100-jährige Überlebende Anita Lasker-Wallfisch. Eine hochinteressante und gleichzeitig problematische Doku.
Ausgezeichnet mit zwei Oscars Familienidylle am Abgrund der Hölle: Jonathan Glazers Meisterwerk „The Zone of Interest“ mit Sandra Hüller
Das Privatleben von Hedwig Höß und ihrem Mann Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz: Eine schizophrene Familienidylle, nur durch eine Betonmauer getrennt vom Vernichtungslager.