Daniela Völkers Dokumentarfilm handelt von einer kaum glaublichen Begegnung: Anita Lasker-Wallfisch, eine fast 100-jährige Britin, die als Mitglied des Mädchenorchesters in Auschwitz der Vernichtung entging, trifft mit ihrer Tochter auf den Sohn und den Enkel des Massenmörders Rudolf Höß. Nach dem mehrfach oscarprämierten Film „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer jetzt eine dokumentarische Aufarbeitung des Themas Auschwitz im Kino, die hochinteressant und gleichzeitig problematisch ist.
Auschwitz aus unvereinbaren Perspektiven
Dieser Film erzählt die Geschichte von Auschwitz aus der Perspektive der Familie von Rudolf Höß, dem berüchtigten Auschwitzkommandanten und Massenmörder. Hier wird sie gespiegelt durch die Geschichte von Anita Lasker-Wallfisch und ihrer Tochter Maya. Anita war einst Mitglied des „Mädchenorchesters" von Auschwitz, überlebte die Shoah und ist heute fast 100 Jahre alt. Der Film der Regisseurin führt Opfer und Täter, also unvereinbare Perspektiven zusammen.
Hochinteressante und gleichzeitig problematische Doku
Dies ist zugleich ein hochinteressanter und ebenso problematischer Film. Beginnen wir mit den Pluspunkten: Es gibt einige selten zu sehende Bilder, die dieser Film auf der großen Leinwand präsentiert. Es sind dies Bilder der industriellen Ermordung der europäischen Juden. Der letzten Stunden vor der Deportation, der letzten Minuten vor dem Gang in die Gaskammer, des Alltags der Vernichtung.
Können Juden den Deutschen vergeben?
Es kommt zu einem bizarren Moment der Begegnung von Anita Lasker-Wallfisch mit Hans-Jürgen Höß, dem zweiten Sohn des berüchtigten Lagerkommandanten von Auschwitz und dessen Sohn Kai. Die Begegnung ist bizarr, denn was hat man sich schon zu sagen? Was könnte man sich zu sagen haben?
Selbst als Hans-Jürgen Höß um Vergebung bittet – und dies ohne Frage ehrlich und ernst meint –, stellt sich sehr schnell die Frage, wer denn hier wem und wofür überhaupt vergeben könnte? Sollten hier stellvertretend Juden und Deutsche einander vergeben? Das kann es nicht sein.
Das Nebeneinander von Möglichem und Unmöglichem
Hölle und Idyll, der Abgrund zwischen beidem ist das Thema dieses Films. Und die Frage, wie weit es sich um ein falsches Idyll handelt, wenn es direkt neben der Hölle liegt. Sie ist das zweite Thema. Es geht auch um das Allgemeine: Wie können Juden und Deutsche, wie können die Nachfahren der Täter und die Nachfahren der Opfer heute miteinander überhaupt kommunizieren?
Über den Abgrund hinweg, der sie und ihre Schicksale und ihre Familiengeschichten trennt? Trennen muss. Über die Befangenheit hinweg, die in fast jeder deutschen Wortmeldung, noch der bemühtesten, noch der mit den besten Absichten und mit schlechtesten Gewissen jederzeit spürbar bleibt?
Geschichte einer Verdrängung
Aber dieses Nebeneinander birgt auch unendliche Gefahren, und nicht allen entgeht dieser Film: Dies ist immer wieder auch die Geschichte einer Verdrängung. Einer Verdrängung, die im Kinosaal fast unerträglich wird.
Einer Verdrängung, in der die Kinder immer wieder ihren Vater als guten Vater beschreiben, ihre Kindheit als Idylle. Selbst den Lärm der Todesfabrik direkt hinter der Mauer ihres Gartens haben sie nicht gehört und bestreiten, dass es die Asche der Ermordeten in den Garten regnete.
Wegschauen und weghören geht in diesem Film nicht
Das Ganze hat großen historischen Wert, um späteren Generationen eine kaum glaubliche Verdrängung und Verleugnung vor Augen zu führen, und zugleich bleibt man als Beobachter immer unsicher, was dieser Film in der Gegenwart wirklich tun soll und bewirken kann.
In Deutschland, dem Land der Täter und vieler Opfer, könnte dieser Film allerdings zumindest eines bewirken: verhärtete Fronten und Lager zum Sprechen zu bringen. Denn wegsehen und weghören kann man hier nicht mehr.
Trailer „Der Schatten des Kommandanten“, ab 14.6. im Kino
Ausgezeichnet mit zwei Oscars Familienidylle am Abgrund der Hölle: Jonathan Glazers Meisterwerk „The Zone of Interest“ mit Sandra Hüller
Das Privatleben von Hedwig Höß und ihrem Mann Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz: Eine schizophrene Familienidylle, nur durch eine Betonmauer getrennt vom Vernichtungslager.