Eine Kammeroper wie ein 90-minütiger Albtraum: Blasinstrumente, aus denen nur Luft kommt, Streichinstrumente, mit dem Holz des Bogens gestrichen, Sänger denen die Töne im Halse stecken zu bleiben scheinen. Eine Beklemmung, die extrem gut zur literarischen Vorlage von Albert Camus passt.
Opernadaption hält sich genau an den Buchtext
„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.“ – Mit diesen Worten beginnt der Roman „Der Fremde“ von Albert Camus. Die Opernadaption hält sich ganz genau an den Buchtext.
Die Geschichte spielt in den 1930er Jahren in Algerien, damals eine französische Kolonie. Im Zentrum steht ein Mord: Die Hauptfigur Meursault erschießt im gleißenden Sonnenlicht des algerischen Strandes einen Araber.
Postkoloniale Kritik am Roman
„Camus war Algerienfranzose. Er hat für die Rechte der Algerier gekämpft. Gleichzeitig wird seinem Roman heute vorgeworfen, kolonialistisch zu sein.“ Dieses Spannungsverhältnis habe ihn interessiert, sagt Jan Dovrak.
Er ist seit 2018 künstlerischer Leiter des Mannheimer Sommers. Dieses Festival hat vor vier Jahren einen Kompositionswettbewerb ausgeschrieben: Gesucht wurde ein Musiktheater zu Camus’ „Der Fremde“.
Musik von Cecilia Arditto ist beklemmend
Überzeugen konnten letztlich die argentinische Komponistin Cecilia Arditto Delsoglio und die Regisseurin Annette Müller, die gemeinsam das Konzept für diese Kammeroper entwickelt haben. Mit einer sehr beklemmenden Musik von Cecilia Arditto.
„Die Hitze, die Geräusche, die merkwürdigen Stimmungen, auch psychologischen Stimmungen, in diesen überhitzten Räumen, das wird alles überdeutlich beschrieben“, so Dovrak. Arditto habe diese überempfindliche Wahrnehmung zu einer Partitur gemacht.
Hommage an die Musique concrète
Anfang der 1940er Jahre, fast zeitgleich mit dem Roman „Der Fremde“, entstand in Frankreich die Musique concrète, bei der Komponisten mit Alltagsgeräuschen gearbeitet haben. Diese Kammeroper von Cecilia Arditto ist eine große Hommage an diese Musk.
Sie integriert Geräusche von Ventilatoren, Wassereimern, Metallstangen, Plastikbechern ebenso wie das Klappern von Kaffeetassen und das Kratzen von Besteck auf Tellern. All das ist für das Publikum hör- und sichtbar: denn das kleine Orchester sitzt auf der Bühne und spielt Musik, die geprägt ist von sich wiederholenden Patterns und Klangflächen und oft statisch klingt.
Der Protagonist ist in Schockstarre
Obwohl die Sängerinnen und Sänger sich nur sehr wenig bewegen und keinerlei erkennbare Melodie singen, schaffen es alle vier, das Publikum zu beeindrucken. Das Bühnengeschehen erinnert an die Tradition der Tableaux vivants.
Szenen frieren ein und erstarren zu Bildern, die sich einprägen. Das zeigt die Schockstarre des Protagonisten: Er handelt nicht frei, sondern er schießt, „weil der Abzug nachgibt“.
Eine minimalistische Inszenierung
Große Teile der Handlung muss man sich in den Übertiteln selbst erschließen - wie in einem Buch – nur ausgewählte Sätze werden gesungen.
Eine geniale Idee, findet Festivalleiter Jan Dvorak: „Die Inszenierung hat die Aufgabe, diese sehr atmosphärischen Bilder nicht zu theatralisieren. Es ist sehr minimalistisch und trotzdem kann man in die Psychologie der einzelnen Figuren einsteigen.“
Kein Wohlfühltheater, sondern Beklemmung
Es ist kein Wohlfühltheaterabend im Studio des Nationaltheaters Mannheim, sondern eine sehr bedrückende Vorstellung, die emotionslos und gleichgültig sein will – wie der Protagonist Meursault.
Es ist wie ein 90-minütiger Albtraum: Blasinstrumente, aus denen nur Luft herauskommt, Streichinstrumente, die mit dem Holz des Bogens gestrichen werden, Sänger denen die Töne im Halse stecken zu bleiben scheinen. Und doch ist es gerade diese Beklemmung, die extrem gut zur literarischen Vorlage passt.
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