Kim de l'Horizonts Roman „Blutbuch“ wurde 2022 mit dem deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. In dieser Spielzeit nun haben die Theater den Stoff für sich entdeckt. Nach Bühnenadaptionen in Hannover, Magdeburg und Bern hat jetzt das Schauspielhaus Zürich nachgelegt.
Von der Literaturadaption zum eigenständigen Stück
Eine Kritikerin nannte Kim de l'Horizonts Roman „Blutbuch“ eine „gelungene Zumutung“, weil er eine Befreiung war von Begrenzungen wie Geschlecht, Trauma oder Klasse. De l'Horizons Erzählfigur ist non-binär, also keinem Geschlecht zugehörig, und sie hinterfragt mehr und mehr die eigene Vergangenheit, das Schweigen der Mutter und der Großmutter – also die weibliche Blutlinie der Familie.
Das Besondere an der Inszenierung von Hausregisseurin Leonie Böhm, die unter dem Titel „Blutstück“ firmiert: hier ist Kim de l'Horizont selbst mit von der Partie, wenn die Suche einer non-binären Person nach der eigenen geschlechtlichen Identität, von der das Buch erzählt, auf die Bühne kommt. Am ersten Probentag sei er noch „genervt gewesen“ vom eigenen Buch, so de l'Horizon. Dann aber sei etwas ganz anderes entstanden, ein fast unabhängiges Stück.
Insofern ist es mehr als nur ein Gag oder eine Sprachspielerei, sondern hat absolute Folgerichtigkeit, wenn in Zürich das „Blutbuch“ zum „Blutstück“ geworden ist.
Der Versuch eine Begegnung in Mitmenschlichkeit zu schaffen
Böhm und de l'Horizont haben nicht den Roman auf Bühnenformat umgemodelt. Der Abend ist nichts weniger als der Versuch, das, woran das Buch Kim de l'Horizonts eigenem Bekunden zu Folge gescheitert ist, im Theater Wirklichkeit werden zu lassen: nämlich eine Begegnung in Mitmenschlichkeit zu schaffen, die rigide Geschlechterdefinitionen hinter sich lässt. Und damit implizit auch die engen Grenzen, die Menschen durch gesellschaftliche Klasse, Hautfarbe oder kulturelle Herkunft auferlegt sind.
Mag die Bühne auch von Regenbogenfarben dominiert sein und das Quintett der Schauspielenden auch in fancy pardiesvogelhafte Kostüme gekleidet sein, so geht es hier doch nicht allein um den Clash von Queerness und Konvention, sondern um den fröhliche-frivolen Aufstand gegen alle tradierten Rollenmuster, die uns die Vorfahren vererbt haben, für die im Buch Kim de l'Horizonts die Großmutter steht, die „Großmeere“. Um „das Erbe der Scham“ geht es, wie es einmal heißt. Oder drastischer: um die „Scheiße in unseren Adern“.
Eine einzige große Umarmung
Stegreifspiel und Frontalansprache machen den Grundgestus diese grundsympathischen Theaterabends aus, der wie eine einzige große Umarmung daher kommt. Nicht nur auf der Bühne nehmen sie sich immer wieder in die Arme und fassen sich bei den Händen, dauernd werden auch einzelne Zuschauerinnen oder Zuschauer liebe- und respektvoll angesprochen.
Miteinander geht es auf die Suche nach einem wechselseitig vorurteilsfreien Blick. Lieder werden angestimmt, in denen es um die Sehnsucht nach Gemeinschaft geht, die Musik und Gesang auch gleich stiften.
Diese Anleitung zum Ausbruch aus Zwängen und Erwartungen und Aufbruch in ein anderes Denken und Leben, in die Leonie Böhm Kim de l'Horizonts Roman verwandelt hat, schrammt mitunter haarscharf an der Feelgood-Messe vorbei.
Kim de l'Horizont berichtet von der Angst als ständige Begleiterin
Gebannt wird diese Gefahr durch großartige Spielerinnen und Spieler wie Gro Swantje Kohlhof oder Lukas Vögler, die den drohenden Wohlfühlkitsch mit Humor brechen und ein phantasiereiches Spiel beherrschen, das sich auch von gängigen Darstellungskonventionen befreit hat.
Und nicht zuletzt durch Kim de l'Horizont selbst. In der berührendsten Szene der Aufführung steht Kim mitten im Zuschauerraum und berichtet von der Angst, angepöbelt, ja angegriffen zu werden, als ständiger Begleiterin beim Verlassen des Hauses. In dem Moment wird klar: die Einhelligkeit, mit dem das „Blutstück“ im Schauspiel Zürich gefeiert wird, ist noch längst nicht gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit. Auszubrechen aus überkommenen Normen hat noch immer seinen Preis.
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