Kommentar von SWR2 Literaturkritiker Carsten Otte
Die Entscheidung, Kim de l'Horizons Debütroman mit dem Deutschen Buchpreis auszuzeichnen, überrascht ein wenig, passt aber in die politisch-literarische Landschaft.
Denn mit „Blutbuch“ wird ein äußerst experimentierfreudiger, teilweise anspruchsvoller Prosatext ausgezeichnet, dessen Sprachebenen so fluide sind wie die Erzählinstanz selbst. Hier ringt ein nonbinäres Ich, das ebenfalls Kim heißt, um die nicht zuletzt sexuelle Identität, was zeitlebens mit großen Qualen verbunden war.
Das Schreiben, heißt es in dem Roman, sei „immer der Versuch, ein Zuhause zu finden, das es vielleicht schon nicht mehr gibt, das es vielleicht erst noch zu erzählen gilt“.
Was ist überhaupt alles geschehen, in den dunklen Kindertagen?
Kim muss sich von zwei Frauen abgrenzen, für die ein Zuhause vor allem aus festen Regeln und Wertvorstellungen besteht. Doch in diese Schemata kann und will Kim sich nicht einfügen. Aber was ist überhaupt damals alles geschehen, in den dunklen Kindertagen?
Rückblickend muss diese Zeit also noch einmal befragt werden, vor allem die Rollen von Mutter und Großmutter, die in „Blutbuch“ durchweg „Meer“ und „Großmeer“ genannt werden. Stürme auf psychisch hoher See prägen dann auch das Innenleben des Protagonisten.
Neben dem Wasser gibt es in Kim de l'Horizons sprachspielerischer Selbsterkundung zahlreiche Naturmetaphern. Pflanzen können in diesem Werk sprechen, weil die Menschen viel zu oft schweigen. Im Garten der Großmeer steht eine Blutbuche, die symbolhaft auch für das tränenreiche Leben der Hauptfigur steht.
Im Lebenslauf steht: „Geboren 2666 auf Gethen“ und „Studium der Hexerei“
Es handelt sich gewiss um einen autofiktionalen Text, wobei schon der Lebenslauf von Kim de l'Horizon auf dem Buchumschlag einige Rätsel aufgibt. „Geboren 2666 auf Gethen“, steht da geschrieben, und vom Studium der Hexerei ist die Rede – was direkt in den Text verweist:
Die „Meer“ jedenfalls mutiert darin regelmäßig zur Eishexe. Emotionale Kälte prägt ohnehin die Familie, die auch unter dem abwesenden Vater zu leiden hat.
Kim de l‘Horizons „Blutbuch“ rührt und verstört durch eine Erzählweise, die auch sprachliche Grenzen zu überschreiten versucht. So wird man mit drastischen Analsex-Szenen konfrontiert, die sich zuweilen lesen, als sollten sie vor allem eines: provozieren.
Das Politplakative und Bekenntnishafte der Prosa überzeugen in ästhetischer Hinsicht nicht immer
Andere Passagen wirken im ausgestellt umgangssprachlichen Stil erstaunlich banal. Auch das Politplakative und Bekenntnishafte der Prosa überzeugen in ästhetischer Hinsicht nicht immer – insofern stellt sich durchaus die Frage, ob „Blutbuch“ der beste Roman des Jahres ist.
Doch der wird mit dem Deutschen Buchpreis ohnehin nicht ausgezeichnet, denn laut Statuten geht es – ohne eine nähere qualitative Bestimmung – lediglich um den „Roman des Jahres“. Den bietet Kim de l'Horizon mit einem abenteuerlichen Lektüreangebot, das manchmal allzu deutlich mit Konventionen bricht und gerade damit das öffentliche Gespräch über Geschlechterübergänge kongenial bedient.
Kim de l'Horizon versteht den Preis auch als „ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe“
Das Performative dieser Literatur zeigte sich auch, als Kim de l'Horizon sich während der Dankesrede den Schädel rasierte und nach einer kurzen Gesangseinlage tränenreich-pathetisch erklärte: Dieser Preis sei auch „ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe“. Wer will da schon widersprechen?
Kathrin Hondl über den Roman „Blutbuch“ von Kim de l'Horizon
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