„Eigentlich sollten Krisen Anlass dazu geben, in uns zu gehen“, gibt der japanische Philosoph Kohai Saito zu bedenken, und so lautete ja auch die Hoffnung unter Corona-Bedingungen: Wann, wenn nicht jetzt, könnte die Menschheit zu Einsichten gelangen, um demütiger, vernünftiger, zukunftsorientierter zu leben und im Einklang mit der Natur zu handeln. Also bescheidener, maßvoller, bewusster.
Und? Wo befinden wir uns? In einem entfesselten Massentourismus, in dem so viel geflogen und verbraucht wird wie selten zuvor. In einer Autoproduktion, die ungebremst und gefördert große, schwere, schnelle Autos anpreist. In einer Wegwerfgesellschaft, die immer noch nicht auf Reparatur, sondern auf raschen Verschleiß baut. Grenzenloses Wachstum als Prämisse.
Keine Einsichten nach Corona: Die Menschen machen weiter wie bisher
Warum kommt es zu keiner Einkehr, geschweige denn Umkehr? Ist da nicht und wird weiter sein noch etwas, nämlich der Klimawandel, die Klimakrise, die Klimakatastrophe? Alles ist machbar, wird dem Menschen weiterhin eingetrichtert, er sei Herr über die Lage und Machthaber über die Natur. Kohai Saito, der japanische Philosoph und Professor, Hochschullehrer in Japan, 36 Jahre jung, macht auf diesen Irrweg aufmerksam: „Technologie als Ideologie ist ein Grund für die Fantasiearmut, die in der heutigen Gesellschaft um sich greift“, klagt Saito. Der Autor postuliert einen „Systemsturz“, so der Titel seiner Studie, die im Untertitel lautet: „Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“.
Ist Degrowth-Kapitalismus die Lösung?
Die Quelle dieser erforderlichen Fantasie sei der „Degrowth-Kommunismus“ nach Karl Marx. Der japanische Wissenschaftler nimmt sich den Klassiker vor und zwar den späten Karl Marx, der sein Hauptwerk „Das Kapital“ nicht mehr beenden konnte, aber Notizen hinterlassen hat, Briefe, Skizzen, aus denen sich sein geistiger Wandel erkennen und analysieren lässt. Was meint: „Degrowth-Kommunismus“? Ein Kommunismus, der nicht mit dem Bürokraten- und Autokratensystem der Vergangenheit zu verwechseln ist, nichts mit Staatssozialismus und Diktatur des Proletariats zu tun hat. „Degrowth-Kommunismus“ meint, wie Kohai Saito ihn versteht: Gemeingut schaffen für alle grundsätzlichen Bedürfnisse des Menschen wie Energie, Wasser, Boden. Die Ursache des Klimawandels sei der Kapitalismus, schreibt Saito. Ressourcenverschleiß und „Zerstörung unter dem Primat des Wirtschaftswachstums“ verursachten den Klimawandel. Saito fordert „eine Vergesellschaftung großer Ölkonzerne, von Großbanken und digitaler Infrastruktur, kurz gesagt: Wir brauchen einen revolutionären Kommunismus.“
Hoffnung liegt auf globalen Netzwerken und Bürgerinitiativen
Seine Hoffnungen schöpft der Philosoph aus bestehenden (und weltweit zu knüpfenden) Netzwerken, kurz: einer sogenannten Bürgerverwaltung. Schließlich nennt er ein sogenanntes „Netzwerk der Fearless Cities“, dem mittlerweile 77 Städte weltweit beigetreten sind, auch in Afrika, Südamerika und Asien. In Europa verweist er auf Amsterdam und Paris: dort sind Vermietungen durch Airbnb eingeschränkt worden; in Barcelona wurden „mutige Infrastrukturreformen wie mehr Solarenergie oder Elektrobusse“ eingeführt, bemerkt Saito, zudem sei die Stadt mittlerweile als „Zentrum der Solidarwirtschaft“ anerkannt; in Grenoble wurden die Produkte multinationaler Großkonzerne aus den Schulkantinen verbannt. Und auch der allgemeine Widerstand gegen den Massentourismus, den Übertourismus, wächst mittlerweile an vielen Orten. Auf „Vertrauen und gegenseitige Hilfe“ baut Kohai Saito in seiner anregend und didaktisch klug aufgebauten Studie, auf „Selbstbestimmung“ und „globale Solidarität“ gar, kurz auf das, was er unter dem Begriff „Degrowth-Kommunismus“ bündelt. Das setzt ein anderes Menschenbild voraus, es wäre eine radikale Umstülpung der gegenwärtigen Ellenbogengesellschaft. Die Bequemlichkeit jedes Einzelnen müsste ebenso überwunden werden wie der Eigensinn, der Egoismus. Eine schöne Vorstellung, ein aufregendes Gedankenexperiment.