Ein Klassentreffen, rund 60 Jahre nach dem Schulabschluss, eröffnet Elfi Conrads Erinnerungsbuch: „Was war das“, so fragt sich Dora, die Ich-Erzählerin, „für eine unselige Sitte, Fotos der Schulzeit zu zeigen, inzwischen digitalisiert und als JPGs auf einem Computer präsentiert!“
Das, was sie auf den Fotos sieht, löst Erinnerungen aus. An das Aufwachsen in einer mittelgroßen westdeutschen Stadt zu Beginn der 1960er Jahre; an eine Epoche, in der die Strukturen des Nationalsozialismus noch sicht- und spürbar und die Rechte von Frauen kein Thema sind.
Elfi Conrad wurde 1944 geboren. Ihr Buch ist voll von aufschlussreichen, sprechenden Details über deutsche Vergangenheit, vor allem aber ist es getragen von einer steten Ambivalenz, mit der Erzählerin Dora ihre Rolle in Familie und Gesellschaft betrachtet.
Mit ihrem Deutschlehrer streitet sie sich darüber, ob das Gretchen in Goethes Faust wirklich „Fräulein“ genannt werden muss; heimlich bemitleidet sie die Frau des Lehrers dafür, mit einem derartigen Jammerlappen verheiratet sein zu müssen. Aber was muss man, und was darf man?
Dora beherrscht ihre Rolle. Sie funktioniert. Aber damit, dass ihrer Entwicklung die als natürlich geltenden Grenzen der patriarchalisch strukturierten Gesellschaft entgegenstehen, mag sie sich nicht abfinden. Es geht um Gleichberechtigung und Geschlechterrollen; es geht um Lebensenergie, die verpufft; um Freiheitswillen, der an Grenzen stößt.
Trotz dieser gewichtigen Themen hält Elfi Conrad die Balance zwischen Dringlichkeit und Unterhaltsamkeit. Aus einer beinahe unterkühlten Distanz heraus schaut die knapp 80-jährige Autorin ihrem jungen Ich beim Erwachsenwerden zu. Nicht ohne Ironie. Aber auch nicht ohne Schmerzen.