Buchkritik

Ruth Hoffmann – Das deutsche Alibi

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 ist ein Mythos, und Mythen müssen zuweilen kritisch hinterfragt werden: Genau das tut Ruth Hoffmann in ihrem blendend recherchierten Buch „Das deutsche Alibi. Mythos „Stauffenberg-Attentat“ – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird“.

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So richtig verwunderlich ist es nicht, dass man sich in der frühen Bundesrepublik recht schwer tat mit der Bewertung des Widerstands gegen das Dritte Reich. Die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen wurde rasch ad acta gelegt; ehemalige Nazis waren schon kurz nach Kriegsende entlastet und ins neue System eingebunden worden – nicht nur für diese galten die Elsers, Scholls und Stauffenbergs als Landesverräter.

Zudem gab es ja einen neuen Feind, dem man sich mit bewährten Kräften entgegenstemmen musste – den Kommunismus. Eine allzu starke Beschäftigung mit den zahlreichen Tätern und Mitläufern, den Opfern oder Oppositionellen passte da nicht ins Bild.  

Der Widerstand als Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft 

Die Journalistin Ruth Hoffmann untersucht in ihrem ausgezeichnet recherchierten Buch „Das deutsche Alibi“ diesen blinden Fleck sowie den später politisch instrumentalisierten Mythos „Stauffenberg-Attentat“. Noch bis in die 50er Jahre hinein… 

 …standen mit wenigen Ausnahmen also nicht die Verfolger und Henker am Pranger, sondern ihre Opfer. Während für die einen Pensionen gezahlt, Rechtsbeistand geleistet und Ehrenerklärungen abgegeben wurden, waren die anderen weiterhin Verleumdungen ausgesetzt – und die Regierung ließ es geschehen.

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus war ein… 

 …Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Absolution fürs „verführte Volk“ 

Die Unfähigkeit zu trauern verband sich mit dem Unwillen, Scham angesichts der begangenen Verbrechen zu empfinden. Nur langsam änderte sich daran etwas. Die Helden des 20. Juli 1944 hätten den Versuch unternommen, „den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen“, sagte Theodor Heuss zum zehnjährigen Jubiläum des Attentats; dem „verführten“ Volk erteilte aber auch er die Absolution.

Angesichts der vorangegangenen Scheuklappenmentalität war Heuss‘ Bekenntnis jedoch schon ein Fortschritt: Konservativen Kreisen fiel es zwar nicht leicht, den Widerstand zu würdigen – zu sehr stand der im Ruch des Landesverrats; aber mit den Offizieren rund um Stauffenberg konnten sie einigermaßen leben. Immerhin ließ sich deren Haltung gut in ein bürgerliches Narrativ von deutschem Geist und patriotischer Gesinnung integrieren. 

Wie um die Deutung dieses Ereignisses und des Widerstands insgesamt gerungen wurde, wie die Beurteilung auch den Kalten Krieg zwischen West- und Ostdeutschland bestimmte, wie man um Worte feilschte und Redner sich wanden, wie die Hinterbliebenen der Widerständler ihre je eigenen Kämpfe gegen das Vergessen oder das richtige Gedenken führten – das zeigt Hoffmann penibel genau auf. Die Kultur des Erinnerns bettet sie in die jeweiligen politischen Kontexte ein und würdigt einzelne Protagonisten.

Über die Jahre verfestigte sich so das immer gleiche Muster: Widerstand, das war der 20. Juli 1944. (…) und von einer Schuld der Deutschen war praktisch nie die Rede

Historische Erkenntnisse jenseits ideologischer Ambitionen fehlen 

Selbst nach dem Fall der Mauer änderte sich nicht viel – die Instrumentalisierung des 20. Juli für konservative Zwecke setzte sich fort. Der Widerstand linker Gruppen wurde kaum betrachtet, er passte noch immer nicht ins Bild eines konservativen Geschichtsverständnisses, das während Helmut Kohls Regierungszeit neue Konjunktur erfuhr.

Dass der zivile Teil des 20. Juli und das politisch höchst heterogene Netzwerk der Verschwörer bis heute unterbelichtet bleiben und inzwischen die AfD und die Neue Rechte das Datum ungeniert für sich reklamieren können – als Aufstand echten deutschen Patriotismus – scheint nach Hoffmanns Ausführungen fast folgerichtig: Über Jahrzehnte wurde versäumt, historische Erkenntnisse jenseits ideologischer Ambitionen in die offizielle Erinnerungsrhetorik einzubringen.

Das ist das große Verdienst von Ruth Hoffmanns dazu noch exzellent geschriebener Studie – aufzuzeigen, wie der Mythos vom „Stauffenberg-Attentat“ die Komplexität des Widerstands überlagert hat und zum „selbstgerechten Narrativ der Konservativen“ geworden ist. 

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Von Pia Fruth

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