Buchkritik

Urs Engeler – nicht nichts. Gedichte 1984 bis 2024

Stand
Autor/in
Beate Tröger

Urs Engeler ist seit vielen Jahren Verleger innovativer und hochgelobter Gedichtbände. Mit dem Urs Engeler Verlag führt er sogar einen eigenen kleinen Verlag in der Schweiz. Nun hat er selbst eine lyrische Bilanz herausgebracht: „nicht nichts“ versammelt eigene Verse, die leise und tief sind und in ihren winzigen Sprachgesten bezaubern.

Zu Beginn der Schöpfung formt Gott den Menschen aus Erden-Staub und haucht ihm den Atem des Lebens ein. Dieser Atem macht den Menschen zu einer lebenden Seele und ist unter dem Namen Pneuma auch einer der zentralen Begriffe in der Geschichte der Philosophie, der Wissenschaft und Medizin in der Antike.

In seiner Verwendung als poetisches Bild kommt dem Atem eine entsprechend wichtige Bedeutung zu. Auch Urs Engeler greift ihn in seinem neuen Lyrikband „nicht nichts“ auf: 

Auf, Atem,  
den andern ein-,  
das andere Haus  
atmen.

Nur wenige Verse genügen Engeler, um mit kleinsten Mitteln eindrucksvoll wirkende Verse entstehen zu lassen, die deutliche Anklänge an das bekannte Gedicht „Im Atemhaus“ der jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer aufweisen, das vom Spannen unsichtbarer Brücken zu Menschen und Dingen spricht, und an dessen Ende sich das lyrische Ich vorstellt, im Atemhaus zu wohnen, eine Menschenblumenzeit.  

Wie das Gedicht der berühmten Vorgängerin, richten sich auch Urs Engelers Verse allesamt auf ein Gegenüber. Dieses Gegenüber kann ein geliebter Mensch oder ein besonderer Gegenstand sein, eine Blume oder eine Katze.

Es kann die Flüchtigkeit, die Vergänglichkeit, selbst das Sterben sein, also gewichtige philosophische Entitäten oder Existenzialien, denen sich das sprechende Subjekt meist vertrauensvoll, zugleich aber mit Behutsamkeit nähert, langsam, in winzigen Sprachgesten: 

Ganz nun aufgegangen  
im langen Schatten – 
–so ganz verstummt 
und nur mehr Aug

Die starke Neigung dieser Verse zum Verstummen, die schon Paul Celan dem Gedicht der Moderne in seiner Büchnerpreis-Rede „Der Meridian“ attestierte, kulminiert im Titel des Englerschen Bandes.

„nicht nichts“ ist in seiner doppelten Verneinung zwar etwas, aber nicht eben viel. Und doch prägen sich diese kleinen, vorsichtigen, fast scheuen Gedichte ein, die manchmal nur aus einem einzigen Vers bestehen.  

Er fasst sich kurz dieser Dichterverleger, der mit großem Enthusiasmus und organisatorischem Geschick viele bedeutenden Lyriker und Lyrikerinnen durch sein Wirken bestärkt und befördert hat.

Doch trotz ihrer Kürze, oder besser gesagt aufgrund ihrer Kürze: Urs Engelers Gedichte sind etwas, in ihrer Luftigkeit erinnern sie an den göttlichen Lebensatem, sie verneigen sich vor Ariel, dem Luftgeist aus William Shakespeares „Der Sturm“, der den Geist der Poesie verkörpert, sie bezaubern in ihrem gestischen und kreatürlichen Ton, der Worte bewegt wie Gräser im Wind. Oder wie seltene, unauffällige Nachtschattengewächse, die in lyrische Prosa übergehen: 

 Man möchte ein Haus haben mit vielen Zimmern nur mit Pflanzen und den Stimmen von Vögeln und Bewegungen von Schmetterlingen und einen Tisch an dem man schreibt und ein Bett in dem man liegt und liest und liebt. Man bewohnte ein Treibhaus und wäre selber ein Pflänzchen und würde ein dunkles Leben führen tief unterirdisch und in der Wärme der Erde und in der Weite der Nacht. Man würde Blüten treiben und ein bisschen bunt sein in dem vielen Grün und ein bisschen weich und feucht bis in alle Ewigkeit.

Urs Engelers „nicht nichts“ ist ein Gruß an die Sterblichkeit und ein leises Zwinkern hin zu der Ewigkeit, nach der sich das dichterische Wort nun einmal sehnen muss, um überhaupt aufgeschrieben zu werden, um Jahr um Jahr aufzublühen wie der Flieder, dem die abschließenden beiden Verse des Bandes gewidmet sind, die nur aus zwei Wörtern bestehen:

wieder 
flieder

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