Buchkritik

Ling Ma – Glückscollage

Stand
Autor/in
Oliver Pfohlmann

Ein Mann, der sich im Bett als Yeti entpuppt, eine Droge, die unsichtbar macht, eine Frau, die mit ihren hundert Ex-Liebhabern shoppen geht – die brillanten Storys der US-Amerikanerin Ling Ma schlagen ein ums andere Mal ins Fantastische um. Und verraten so viel über unsere Gegenwart.

Wann fühlen wir uns der Realität besonders nah? Im Storyband „Glückscollage“ der US-Amerikanerin Ling Ma heißt es einmal, es seien gerade die surrealen Situationen im Leben, die den Eindruck von Präsenz erzeugen. An solch surrealen, unheimlichen Momenten ist in den acht Storys dieses Bandes kein Mangel.  

Wendungen ins Fantastische 

Egal, ob es um einen One-Night-Stand geht, eine Schwangerschaft oder um eine Reise ins Heimatland des Ehemannes, stets kommt es zu verblüffenden Wendungen ins Fantastische. Ein Unbekannter aus der Bar entpuppt sich zuhause als sagenumwobener Schneemensch.

Ein Arm des Fötus baumelt schon lange vor der Geburt außerhalb der Fruchtblase zwischen den Beinen der Protagonistin. Und ein Ehemann will nur deshalb sein Heimatdorf besuchen, um sich einem alten Ritus folgend über Nacht lebendig begraben zu lassen, in der Hoffnung, anderntags seiner Frau als neuer Mensch wiederzubegegnen.  

Verblüffend sind diese Wendungen aber nur für die Leserschaft. Denn die weiblichen Hauptfiguren dieser Storys nehmen das Übernatürliche mit auffallender Selbstverständlichkeit hin.

Ihr allenfalls von leichter Neugier durchsetzter Gleichmut manifestiert sich nicht zuletzt sprachlich, in einem für diese Erzählungen typischen trocken-sachlichen Ton, den Zoë  Beck vorzüglich ins Deutsche übertragen hat.  

Ihr abendliches Ritual nach dem Duschen bestand darin, den Babyarm anzuziehen. […] Der Arm war jetzt dick und kräftig, die Muskulatur fester als zuvor. Sie massierte ihn ein wenig. Jede Woche schnitt sie ihm die Fingernägel.

Hellsichtiger Debütroman 

Diese zum erzählten surrealen Inhalt gleichsam querstehende sachliche Prosa kennt man bereits aus dem gefeierten Debütroman der 1983 in China geborenen Autorin, der Postapokalypse „New York Ghost“. In ihr wurde die Welt schon 2018 von einer in China ausbrechenden Seuche heimgesucht.

Der amerikanische Literaturbetrieb feierte übrigens auch Ling Mas neues Buch „Glückscollage“, und das durchaus zu recht, so eindrucksvoll und originell sind diese Storys, so viel verraten sie über die gesellschaftspolitischen Verhältnisse der Gegenwart. 

Toxische Mädchenfreundschaft 

Ihre Protagonistinnen sind, wie die Autorin, junge Amerikanerinnen chinesischer Herkunft. Von den Erwartungen ihrer Mütter und Community versuchen sie sich ebenso zu befreien, wie sie sich in der weißen Mehrheitsgesellschaft zu behaupten suchen, mit Jobs in Regierungsbehörden oder, wie Ling Ma heute selbst, an der Uni.

Der Titel des Bandes „Glückscollage“ ist übrigens die Übertragung eines Begriffs aus der Filmwissenschaft: Als „Bliss Montage“ bezeichnete einst die Filmhistorikerin Jeanine Basinger ein wiederkehrendes Hollywoodmotiv, wenn sich Frauen für einen kurzen Moment als Herrinnen ihres Schicksals fühlen dürfen. Das Glück von Ling Mas Heldinnen ist nicht minder doppelbödig. 

In der stärksten, aber auch abgründigsten Geschichte des Bandes mit dem Titel „G“ – der Buchstabe steht für Gravitation – geht es um eine toxische Frauenfreundschaft und um eine Droge, die die Protagonistinnen gleichermaßen schweben lässt wie unsichtbar macht. Ein befreiendes Erlebnis, jedenfalls so lange man bei der Dosierung aufpasst: 

Weißt du, wie sich die Welt dir fügt, wenn du dich in einem unsichtbaren Kokon durch sie hindurchbewegst? Niemand sieht dich an, niemand beurteilt dich. Der kleine Amboss der Unsicherheit hebt sich. Du kannst überall hingehen, ungehindert von den Mikroaggressionen Fremder, den gezwungenen, bleischweren Höflichkeiten von Freunden und Bekannten.

Nach dem Muster der Traumlogik 

Andere von Ling Mas Ich-Erzählerinnen erleiden auch handfeste Aggressionen, geraten etwa an gewalttätige Partner, die sie auch nach der Trennung nicht loswerden. Wie in der Story „Los Angeles“, in der die Ich-Erzählerin in ihrem Haus mit ihren 100 Ex-Liebhabern nicht nur lebt, sondern mit ihnen auch nachmittags zum Shoppen fährt. In ihrem Porsche, wohlgemerkt.

Dass die Vergangenheit oft länger lebendig ist, als einem lieb ist, ist eine Erfahrung, die wohl jeder schon einmal gemacht hat. In Mas Erzählung wird sie nach dem Muster der Traumlogik einfach wörtlich genommen und voller Erzähllust bis ins absurdeste Detail ausbuchstabiert. 

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