Sachbuch „After Woke“ als Reaktion auf den 7. Oktober

Popkritiker Jens Balzer über Wokeness: Gute Idee mit schlimmen Folgen

Stand
Autor/in
Beate Meierfrankenfeld

Die ausbleibende Empathie der Linken nach dem 7. Oktober war für den Autoren und Journalisten Jens Balzer verstörend. In seinem Buch „After Woke“ fragt er, wie die für ihn „gute Idee der Wokeness“ – einer Sensibilität gegenüber Diskriminierung – zur Rechtfertigung von Terror führen konnte. Für Kritikerin Beate Meierfrankenfeld ein lesenswertes Buch, dass sich allerdings zu wenig mit den scharfen Angriffen auf die „Wokeness“ von rechts auseinandersetze.

„Wokeness“ als universalistisches und sensibilisierendes Konzept

Ein „moralischer Bankrott“ seien die Reaktionen auf den 7. Oktober vonseiten der „woken“ Linken gewesen. Dem will Balzer nachgehen. Zunächst mit der Frage, was „Wokeness“ eigentlich meint.

Der Musikkenner Balzer findet den Begriff zuerst 1938 in einem Song des Bluesmusikers Lead Belly – und 70 Jahre später wieder bei der R’n’B-Sängerin Erykah Badu.

„Stay Woke“: Bleibe aufmerksam und achte darauf, dass alle Menschen, auch wenn sie von rassistischen Diskriminierungen unsichtbar gemacht werden sollen, eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besitzen können.

Eine Idee von Wokeness, die Balzer sehr zurecht mit Habermas’schem Vokabular interpretiert: als Sensibilität dafür, dass der öffentliche Diskurs für alle zugänglich sein muss. Und als universalistisch, also keineswegs darauf bedacht, nur die Erfahrungen bestimmter Gruppen zur Geltung zu bringen.

„Identitäre Verhärtung“ durch „Ratgeber-Variante des Postkolonialismus“

Tatsächlich aber habe die woke Weltsicht sich mehr und mehr auf fixe Identitäten verengt, so Balzer. Ebenso wie der Postkolonialismus, die zweite große Denkbewegung, die sein Buch untersucht. 

Auch hier konstatiert Balzer eine unselige Entwicklung: Weg von Positionen der 80er- und 90er-Jahre, die die Offenheit aller Kultur betonten, Mischung, Durchdringung, das „Kreolische“, hin zur Abgrenzung von Kulturen gegeneinander – und zu ihrer Verteidigung gegen fremde Aneignung.

Eine „identitäre Verhärtung“, so Balzer, die er vor allem der „Ratgeber-Variante des Postkolonialismus“ zuschreibt. Sie will Weiße mit antirassistischen Büchern dazu bringen, ihre Vorurteile und Privilegien zu erkennen. Voraussetzung dafür sei die strikte Trennung zwischen Weißen und Nicht-Weißen.

Und weil Jüdinnen und Juden diesem Weltbild zufolge Weiße sind, werden sie als Opfer von Gewalt gar nicht gesehen.

Buch als Reaktion auf den Schock vom 7. Oktober

Jens Balzers Buch ist die Reaktion auf den Schock des 7. Oktober, setzt jedoch nicht auf Zuspitzung. Vieles war so ähnlich in den zurückliegenden Monaten in Zeitungsartikeln zu lesen – dort aber meist als prinzipielle Abwehr.

Jens Balzer dagegen will die Wokeness nicht loswerden, sondern ihren richtigen Kern gegen ihre bedrückenden Irrtümer retten.

Der Buchtitel „After Woke“ allerdings kokettiert dann doch mit dem rabiaten Anti-Woke-Diskurs von konservativer und populistischer Seite. Das ist die Hauptkritik, die man dem lesenswerten Buch machen muss: dass es diese Angriffe und ihre politischen Motive zu wenig reflektiert.

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