Norwegische Literatur – das sind düstere Kriminalromane, mystische Sagen und melancholische Geschichten, in schneebedeckten Holzhütten im dunklen Norden Skandinaviens geschrieben. Dass es sich dabei lediglich um ein verbreitetes Klischee handelt, sollte klar sein.
Denn die Themen-Palette ist viel breiter: Betrachtet man die Literaturwelt Norwegens genauer, sind experimentelle Auseinandersetzungen, ein großer erzählerischer Abwechslungsreichtum und herausragende Werke zahlreicher Autorinnen und Autoren zu entdecken.
Traum im Frühling
Unter dem Motto „Traum im Frühling“ wird Norwegen in diesem Jahr als Ehrengast die Leipziger Buchmesse begleiten. Um die 50 norwegische Autorinnen und Autoren werden zu Gast sein, um die Messe-Bühnen zu bespielen und ihre Werke vorzustellen.
Doch was macht die Literatur Norwegens aus? Welche Themen stehen in der Literatur des Landes im Vordergrund und welche norwegischen Autorinnen und Autoren sollte man besonders auf dem Schirm haben?

Klassiker aus Norwegen
Das Land im Norden Skandinaviens, das gerade mal 5,5 Millionen Einwohner zählt, blickt auf eine erwähnenswerte Literaturgeschichte zurück. Da wäre zum Beispiel Henrik Ibsen (1828-1906) zu nennen. Der „Vater des Realismus“ ist nach Shakespeare der meistaufgeführte Dramatiker der Welt.
Oder Tarjei Vesaas (1897-1970): Er gilt als bedeutender norwegischer Autor des 20. Jahrhunderts. Einige seiner Werke rückten innerhalb der letzten Jahre auf dem deutschen Buchmarkt wieder stärker ins Blickfeld, da sie neu übersetzt und vom Guggolz Verlag herausgebracht wurden.
Nicht wegzudenken ist auch der Jugendbuchklassiker „Sofies Welt“ von Jostein Gaarder aus dem Jahr 1991 über die Geschichte der Philosophie. Oliver Møystad betont den hohen Stellenwert, den Kinderbücher generell in Norwegen haben. Die Autor*innen brechen hier gerne Tabus und zeigen keine Scheu, Themen zu benennen, die die Menschen umtreiben.

Besonderes nationales Einkaufssystem
Sicher trägt hierzu auch das einmalige Einkaufssystem von Büchern in Norwegen bei. Das Konzept gibt es seit den 1960er-Jahren. Dabei werden von Verlagen eingereichte Titel von einem Gremium geprüft und eine feste Anzahl an Büchern in die nationalen Bibliotheken verteilt. Damit sind Veröffentlichungen neuer norwegischer Bücher sichergestellt.
Autorinnen und Autoren haben durch diese Regelung eine gewisse Grundsicherung, so Oliver Møystad von NORLA, dem Zentrum für norwegische Literatur im Ausland, das den Gastlandauftritt Norwegens bei der Leipziger Buchmesse koordiniert: „Das heißt, dass die Autoren experimentieren können, nicht so kommerziell sein müssen […]. Das erklärt auch die Vielfalt der norwegischen Literatur.“
Tendenz des Minimalistischen
Seit Jon Fosse 2023 nach fast 100 Jahren erneut den Literaturpreis nach Norwegen holte, ist der Blick derzeit wieder verschärft auf aus diesem Land stammende Werke gerichtet.
SWR2 lesenswert Feature Suche in Dunkelheit und Licht – Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse
Jon Fosse bekam 2023 den Literaturnobelpreis. Der Norweger ist einer der großen Mystiker der europäischen Gegenwartsliteratur. Eine Begegnung mit dem Dramatiker und Romancier.
Sein Schreibstil wird gerne als „Fosse-Minimalismus“ bezeichnet, da seine Stärke in der minimalistischen Sprache und der Reduktion dramatischer Handlung liegt. In einfachen Worten und reduzierter Form drückt er starke menschliche Emotionen aus.
Er ist zudem ein Beweis dafür, dass sich in Norwegen auch kürzere Erzählungen großer Beliebtheit erfreuen – für Übersetzende können Fosses Texte aufgrund seiner besonderen Schreibform allerdings eine Herausforderung darstellen.
Maximalistisches Gegenbeispiel
Als maximalistisches Gegenbeispiel zu Jon Fosses „langsamer Prosa“ erweist sich Karl Ove Knausgård, der in seinen Romanen gerne weit ausholt und dessen Geschichten sich auch mal über 1000 Seiten erstrecken. In seiner bekannten „Min kamp“-Reihe erschuf er eine Welt, in der er das „Ich“ in den Mittelpunkt stellte und es nur um ihn selbst geht. Es ist ein Werk, mit dem er polarisierte und eine Tendenz ins Autofiktionale begründete.
Knausgårds Freude an Detailreichtum zeigt sich beispielsweise auch in seinen monumentalen und hyperrealistischen Bänden „Der Morgenstern“ oder „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“, in denen er die Tiefen der Existenz und die Oberflächlichkeit des Alltags ergründet und dem Menschheitstraum der Unsterblichkeit nachgeht.
Internationale Neuentdeckung
Weniger bekannt als Knausgård, dafür aber nicht weniger bedeutend im Bereich der selbstentblößenden Literatur, war auf dem deutschen Markt bis zuletzt Vigdis Hjorth. Obwohl sie bereits um die 30 Romane geschrieben hat und in Norwegen als vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin gilt, wurde sie in Deutschland erst vor kurzem entdeckt.
Mit ihrem Roman „Ein falsches Wort“ gelang ihr durch die Nominierung beim National Book Award 2019 der internationale Durchbruch. Seitdem begeistert sie mit ihren Büchern auch in Deutschland viele Lesende.
Spannungsfeld Familie als präsentes Literaturthema Norwegens
Oliver Møystad von NORLA nennt die Auseinandersetzung mit dem Thema Familie als eines der großen Literaturthemen Norwegens: „Es sind oft Familienkonstellationen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, wo es darum geht, seinen Platz zu finden innerhalb der Familie.“
Vigdis Hjorth sticht hierbei besonders heraus, da sie in ihren Werken das Spannungsfeld Familie auseinandernimmt. In „Die Wahrheiten meiner Mutter“ beispielsweise geht es um eine 60-jährige Frau, die nach jahrelanger Funkstille nun wieder den Kontakt zu ihrer Mutter sucht, um ihre Verletzungen aus der Vergangenheit anzugehen. Viele von Hjorths Geschichten basieren auf ihrem eigenen Leben und so waren ihre Romane teilweise auch für Verwerfungen mit ihren Familienmitgliedern verantwortlich.
Vertreter einer jüngeren Generation
Mit aufgeheizten Familienzusammenkünften beschäftigt sich auch Marie Aubert, die eine jüngere Generation norwegischer Autorinnen vertritt und ebenso bei der Leipziger Buchmesse dabei sein wird. In ihren Romanen beschreibt sie Familientreffen, bei denen alte Wunden aufgerissen werden und unausgesprochene Konflikte an die Oberfläche kommen.
Als Stargast auf der Leipziger Buchmesse wird in diesem Jahr der 22-jährige Newcomer Oliver Lovrenski hoch gehandelt. Ihn solle man sich unbedingt merken, so Oliver Møystad. Lovrenskis unkonventioneller autobiographischer Debütroman „bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“ wurde bereits zahlreich ausgezeichnet und erschien im Februar bei Hanser Berlin.
Er schreibt in einem „Straßen-Slang“ vom Alltag als junger Mensch in der migrantischen Community Oslos. Ein brandaktuelles Werk, das erneut die Experimentierfreudigkeit norwegischer Autor*innen zeigt.
Starke feministische Stimmen aus Norwegen
Auch junge und starke Stimmen feministischer Literatur erreichen uns aus Norwegen, wie zum Beispiel die von Linn Strømsborg, die mit ihrem neuesten Roman „Verdammt wütend“ zu Gast in Leipzig sein wird. Sie beleuchtet die Frage des Kinderkriegens, die innerhalb der norwegischen Literatur sehr präsent sei, wie Oliver Møystad erwähnt. Strømsborg plädiert für ein Umdenken der traditionellen Familienbilder und dafür, die gesellschaftlichen Anforderungen an Frau- und Muttersein zu hinterfragen.
Hörbuch Frisch und ehrlich – „Nie, Nie, Nie“ von Linn Strømsborg
„Ich will keine Kinder, nicht mit ihm, mit niemandem. Schon gar nicht mit mir selbst“
Die 35jährige Protagonistin in Linn Stromsborgs Roman „Nie, Nie, Nie“ widersetzt sich den gesellschaftlichen Erwartungen, enttäuscht ihre Mutter und riskiert sogar ihre glückliche Langzeitbeziehung, denn sie will keine Kinder. Die Mutterrolle ist keine Option in ihrem Lebensplan. Dabei hat sie nichts gegen Kinder, auch nicht gegen Familie, nur für sich selbst hat sie dieses Rollenmodell nicht vorgesehen. Das führt zu jeder Menge Problemen mit ihrem Umfeld. Doch welche Kompromisse kann man aus Liebe eingehen? Wann verrät man sich selbst?
Aktuell besonders im Blick sind außerdem Bücher über in Norwegen lebende Minderheiten. Mehrere Autoren und Künstlerinnen werden dem Publikum in Leipzig die Kultur des indigenen Volks der Samen näherbringen.
Natur als ständige Nebenfigur
Ein Motiv, das sich in den allermeisten Werken aus Norwegen wiederfindet, ist die Natur – vereinzelt als Hauptthema, wie zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit den Folgen des Klimawandels wie bei der bekannten Autorin Maja Lunde, größtenteils jedoch eher als ständig auftretende Nebenfigur. „Die Natur ist immer präsent in der norwegischen Literatur, weil die Natur in Norwegen eben so präsent ist“, betont Oliver Møystad.

Norwegen zu Gast in Leipzig
Welche Rolle hat Deutschland für den norwegischen Buchmarkt? „Deutschland war und bleibt unser wichtigster Markt außerhalb von Skandinavien“, so der Gastland-Koordinator von NORLA. Das zeige sich dadurch, dass viel Literatur ins Deutsche übersetzt werde und es ein großes, treues Publikum in Deutschland gebe.
Was uns bei der Leipziger Buchmesse aus Norwegen erwarten wird, ist eine große literarische Diversität. Wer bei dieser sprachlichen Vielfalt und dem breiten Spektrum an Themen, die die norwegische Literatur zu bieten hat, noch keine Lust verspürt, dem oder der hilft vermutlich ein Besuch auf der Leipziger Buchmesse – oder vielleicht direkt ein Ausflug ins Gastland selbst.