Buchkritik

Tommy Orange – Verlorene Sterne

Stand
Autor/in
Claudia Fuchs

Der US-Autor Tommy Orange verknüpft in seinem zweiten Roman „Verlorene Sterne“ die Schicksale zweier indigener Teenager über 150 Jahre Kolonialgeschichte hinweg. Eine Anklage an Gewalt und Landraub, die bis heute nicht aufgearbeitet ist.

Unser Wissen über Native Americans in den USA wird oft überlagert von Klischees aus Karl-May-Romanen, US-Western und Winnetou-Filmen der 1960er Jahre. Wir haben ein nostalgisches Bild der Indianer: Sie lebten ein nachhaltiges, naturnahes Leben in weiten Landschaften.

Aber das sind romantisierte Bilder aus der Vergangenheit. Der amerikanische Autor Tommy Orange, Mitglied des Cheyenne und Arapaho Tribe, führt uns in seinem zweiten Roman „Verlorene Sterne“ in eine ganz andere Welt ein.

Eine Welt jenseits romantischer Klischées

„Verlorene Sterne“ erzählt die Vorgeschichte zu seinem ersten Roman „Dort, dort“ und ist zugleich die Fortsetzung. Der Autor entwirft über sieben Generationen hinweg eine Familiengeschichte, die durch Erfahrungen von Unterdrückung, Landraub und Sucht geprägt ist.

Dieser Erzählung stellt der Autor einen Prolog voran, der den schockierenden politischen Slogan zur Lösung des sogenannten „Indianerproblems“ auf den Punkt bringt: „Den Indianer töten, um den Menschen zu retten.“

Historischer Ausgangspunkt: das Massaker von Sand Creek

Historischer Ausgangspunkt von Tommy Oranges Roman ist das Massaker von Sand Creek in Colorado, wo im November 1864 Milizen 180 Cheyenne und Arapaho-Indianer in ihrem Winterlager niedermetzelten, die meisten davon Frauen und Kinder.

Einer der wenigen Überlebenden ist Jude Star, der gemeinsam mit einem jungen Stammesbruder vor der US-Kavallerie in ihren blauen Uniformen fliehen kann.

Ich meinte Vögel zu hören, kurz bevor es hell wurde, nachdem ich aufgeschreckt war voller Angst vor Männern so weiß, dass sie blau wirkten. Ich hatte oft Träume von blauen Männern mit blauem Atem, das Vogelgezwitscher wurde zum Quietschen träger Räder, als im Morgengrauen Gebirgsgeschütze auf unser Lager zurollten. 

Die Erfahrung des brutalen Massakers schreibt sich in Körper und Psyche der Kinder, Enkel und Urenkel ein. Tommy Orange schreibt über Indianer im Hier und Jetzt .

Mit seinem Erstlingserfolg „Dort, dort“ hat Orange ein Thema gefunden, das bisher kaum literarisch bearbeitet wurde: Das Leben der indigenen Amerikaner in den Städten. Von den etwa fünf Millionen Native Americans leben heute circa siebzig Prozent in Städten, nicht in Reservaten.

Identitässuche über Generationen hinweg

Wie sie dort leben und warum sich die immer gleichen Probleme von Identitätssuche, Sucht und familiärer Instabilität über Generationen fortsetzen, ist das Thema von Oranges zweitem Roman.

Aber bevor er in seinem aktuellen Roman in der Gegenwart ankommt, blättert er an den Beispielen von Jude Stars Sohn und der Tochter eines Stammesbruders die deprimierende Geschichte ihrer Nachkommen über die folgenden 150 Jahre auf.

Wesentliche Wegmarken sind die Internierung einer Gruppe von Indianern in einer Gefängnisfestung in Florida und die Einrichtung der später berüchtigten Indianerinternate. Jude Stars Sohn gehört zu den Schülern des ersten Internats, das 1879 in Pennsylvania gegründet wurde.

Er hegt den Verdacht, dass sich noch etwas Schlimmeres unter seinen schlimmsten Erinnerungen an die Schule verbirgt, unter den Haarschnitten und dem Abbürsten, den Märschen, den Prügeln, dem Hunger und dem Arrest und den zahllosen Bloßstellungen, weil er Indianer blieb, während sie sich fortwährend bemühten, ihn zu bilden, zu christianisieren, zu zivilisieren. (…) Selbst manche der anderen Indianerkinder hänselten ihn, weil er halb weiß war.

Dass die Kinder aus Verbindungen zwischen Indianern und weißen Amerikanern besonderen Anfeindungen ausgesetzt sind, zieht sich als Thema durch den Roman, bleibt aber im Vagen.

Verfehlte US-Politik gegenüber der Indigenen

Tommy Orange führt Beispiele der verfehlten US-Politik gegenüber der indigenen Bevölkerung im ersten Teil des Romans auf 115 Seiten quasi im Schnelldurchlauf mit verschiedenen Protagonist*innen an, die aber so rasch durch die Jahrzehnte wechseln, dass man den Überblick verliert.

Als Personen sind sie kaum ausgearbeitet, weil sie zu bloßen Bedeutungsträgern schrumpfen. Der Autor streift viele wichtige Themen, bleibt aber durch die zeitliche Straffung an der Oberfläche.

Erneute Begegnung mit Orvil Red Feather

Im zweiten Teil des Romans mit dem Titel „Nach 2018“ wird die Geschichte des jungen Orvil Red Feather weitererzählt, der am Ende von „Dort, dort“ auf einem Powwow-Festival angeschossen wurde. Nachdem bereits Orvils Vorfahren Laudanum, Mescalin und Alkohol konsumierten, wird auch er als Teenager abhängig von Schmerzmitteln.

Jung und frei sein klingt wie eine gute Option. Obdachlos sein klingt schon anders und so könnte man Lonys Leben auch beschreiben. Zugang zu gut dotierten Jobs gibt es für die indigene Familie kaum.

In einem Nebenstrang der Geschichte driftet der Schüler zeitweise in die Dealer-Szene ab, weil der Vater eines Schulfreundes illegal Drogen im heimischen Labor herstellt, die Orvil dann verkauft.

Orvils jüngster Bruder Lony hält zwar durch bis zum Highschool-Abschluss, aber den Schritt ins bürgerliche amerikanische Leben macht er nicht. Jahrelang bleibt der Junge verschwunden, ohne Kontakt zur Familie. Im letzten Kapitel „Unzustellbar“ lesen wir seinen sechsseitigen Brief als erstes Lebenszeichen:            

Ich habe gelebt, wie die Indigenen damals, als unsere Welt das erste Mal untergegangen ist. Frei sein und umherziehen und es alles verstehen, (…) nur das wollte ich. (…) Ich war kein guter Mensch, habe nichts zur Gesellschaft beigetragen, aber andererseits auch nichts zu den Arschlochkonzernen und der US-Regierung, die mehr Leben zerstören, als man zählen kann, (…) .   

Auch wenn der Roman bisweilen unter inhaltlicher Überfrachtung leidet, wird er seinem aufklärerischen Anspruch gerecht. Durch seine historischen Bezüge regt er dazu an, sich die oft vergessenen Grausamkeiten bewusst zu machen, die mit der Vertreibung der Indigenen verbunden waren. Allein das ist Grund genug, um „Verlorene Sterne“ zu empfehlen.

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