Buchkritik

Esther Dischereit – Ein Haufen Dollarscheine

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Von Autor/in Beate Tröger

Esther Dischereits Roman „Ein Haufen Dollarscheine“ beleuchtet die Geschichte zahlreicher Nachfahren von Shoa-Überlebenden und steht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025.

Man kennt diese großen Familienfeste, bei denen nach dem Essen die Sitzordnung sich auflöst und die Gäste mal hier, mal da miteinander plaudern. Danach hat man eine Menge Gesprächsfetzen und -fragmente im Kopf. Ungefähr so geht es einem nach der Lektüre von Esther Dischereits „Ein Haufen Dollarscheine“. Die Mosaiksteine einzelner Lebensgeschichten hat man im Sinn. Zusammenhänge herzustellen und sich einen Reim darauf zu machen, bleibt die Aufgabe, die dem Leser aufgetragen wird: 

Klären Sie bitte, wer hier mit wem zusammenhängt.

heißt es gleich zu Beginn dieses wilden Romans, dessen Personnage ziemlich unübersichtlich und dauernd unterwegs ist. 

Verstecktes Judentum 

Zwei Figuren werden konturierter eingeführt: Eine Tante und ihr Neffe. Sie treffen sich in einer Flughafenlounge und sind – wie die Autorin selbst – Kinder überlebender Juden der Shoa. Die Tante lebt in Berlin und versucht, mit ihrer Geschichte umzugehen, indem sie sich engagiert. Der Neffe aus den USA hat einen US-amerikanischen Soldaten zum Vater und möchte sein Judentum leben, zum Leidwesen der Mutter.

Die Schwester der Tante, die ihr Judentum aufgrund der historischen Erfahrung versteckt hat, nennt der Neffe „Closet jew“. Er fragt also die Tante: Wohin mit sich, der eigenen Geschichte, den Zuschreibungen? Wie und wo findet man seinen Platz?: 

Meine Generation ist unsichtbar, hat mir die Therapeutin gesagt. Eigentlich sind wir hinter dem Schicksal unserer Leute verschwunden, sozusagen als Person in einem Kollektiv verschwunden, ob ich das wollte oder nicht. Mein Lebtag lang bin ich der Sohn, der Sohn meiner überlebenden Mutter. Meine Schwester spürt das auch und dann sagt sie so idiotische Sachen wie: »Ich hasse das Wort Holocaust Survivor und Mama hasste es auch.« Dann will sie das Wort aus ihrem Leben löschen. Sie versteht nicht, dass das Wort auch wie eine Würdigung von Mama ist.

Die Sprachlosigkeit der Nachgeborenen 

Der Tante geht es ähnlich. Sie reagiert anders, legt mit Wiedergutmachungsbestrebungen und auf der Suche nach einem verschollenen Grab einen extremen Aktivismus an den Tag. Sie wird geplagt von der Erinnerung an die Schwester, die, während die Mutter sich versteckt hielt, unter falscher Identität in Sorau zur Schule ging, eine Kindheit unter dem Schweigegebot erlebte. Dieses Gebot einzuhalten, entschied über Leben und Tod.  

Bist du das Mädchen aus der Stadt … is bestimmt schwer für dich, kriegst du denn Post von Mama …« Das Kind hatte nicht gewusst, was es sagen sollte. Sprich nicht. Der Hals schnürte sich zu, die Augen brannten.

Die Sprachlosigkeit der Nachgeborenen, so begreift man mit diesem Roman, ihre ihnen durch die Geschichte aufgezwungene Ort- und Rastlosigkeit, findet in der Figurenführung, der Sprache und dem Duktus von „Ein Haufen Dollarscheine“ eine ästhetisch konsequente Umsetzung. In einem Interview mit dem Historiker Wolfgang Benz aus dem Jahr 1998 hat Esther Dischereit gesagt: „Schreiben besteht darin, was weggelassen wird. Niemand kann Totalität schreiben.“

Zwischen New York und Heppenheim 

Wer sich beim Lesen dieses Romans, angesichts der Liste von Figuren, die ihm beigegeben sind, angesichts der Parforceritte zwischen Rom, Berlin, New York und Heppenheim an der Bergstraße, angesichts der wilden Sprünge in der Chronologie mehr Ordnung wünscht, muss sich fragen, ob dies im Blick auf die Geschichte der Juden nicht schon der erste Schritt in Richtung Verdrängung und Entlastung ist.

Denen, die als Überlebende der zweiten Generation ihren Platz in der Welt suchen, wird noch immer vielfach Antwort auf diese Fragen verwehrt – oder schlicht Geld, das ihnen zustünde. Der Titel „Ein Haufen Dollarscheine“, für den es im Text eine andere Erklärung gibt, könnte also auch als berechtigter Anspruch dieser Survivor-Generation verstanden werden.

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Beate Tröger