Ein menschlicher Knochen wird in einer Skulptur der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman entdeckt. Woher kommt dieser Knochen? Ein beziehungsreicher psychologischer Spannungsroman mit eigensinnigen Charakteren.
Ein schrecklicher Skandal droht: Eine menschliche Rippe wird in einer Skulptur der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman entdeckt. Ist es möglicherweise ein Knochen ihres verschwundenen untreuen Ehemannes, dessen Leiche nie gefunden wurde?
Kurator James Becker ist sich sicher: Das kann nicht sein. Deshalb reist er auf die verlassene Insel Eris an der schottischen Küste, auf der Vanessa einst gelebt hat. Dort wohnt die einzige Frau, die die Wahrheit kennt: Vanessas Nachlassverwalterin und enge Freundin Grace Haswell.
Die fiktive sturmumtoste Insel Eris ist der Haupthandlungsort von „Die blaue Stunde“, dem neuen Roman der Beststeller-Autorin Paula Hawkins. Der Titel bezieht sich auf die Zeit der Dämmerung.
Wem ist hier zu trauen?
Etwas, das harmlos sein kann, entpuppt sich als gefährlich – oder etwas Gefährliches ist doch ganz harmlos. Das beschreibt das angestrebte Erzählverfahren: Die beiden personalen Erzählstimmen gehören zu James und Grace. Beide sind verdächtig, verschweigen Dinge, wissen nicht, wem und ob sie einander vertrauen können.
Dazu kommen E-Mails, Zeitungsausschnitte und Tagebucheinträge von Vanessa. Ihr künstlerisches Ringen, ihr Kampf um Beachtung, die Frauenverachtung in der Kunstwelt der 1990er Jahre wird so anschaulich gemacht.
Ein Künstlerinnenroman – mit einer Toten im Mittelpunkt
Noch nach ihrem Tod – sie starb an Krebs – steht Vanessa im Mittelpunkt: Zu Lebzeiten wollten die Menschen um sie herum Beachtung, Geld, Liebe oder Sex. Posthum ringen insbesondere James und Grace um die Deutungshoheit über sie und ihr Werk. Er will sich als Vanessa-Chapman-Experte etablieren. Und Grace hält ein Teil des Vermächtnisses zurück. Sie will Vanessa nicht loslassen und kontrollieren, was öffentlich wird.
Insbesondere in den ersten zwei Dritteln des Romans zeigt sich Paula Hawkins‘ erzählerische Stärke: Mit jeder neuen Information verändert sich das Bild von dem Geschehen und den Figuren. Vor allem die rätselhafte Beziehung zwischen Vanessa und Grace treibt die Spannung voran. Doch obwohl am Ende einiges offen bleibt, erklärt die Autorin letztlich zu viel.
Moralisch nicht einwandfrei handelnde Frauen
Schon in „Girl on the train“ hat Paula Hawkins über widersprüchliche Frauen geschrieben. Das begründete damals teilweise den Erfolg des Buchs – zusammen mit ihrer US-Kollegin Gillian Flynn entfachte sie einen neuen Boom psychologischer Spannungsliteratur. Seither hat nicht nur Hawkins wiederholt darauf hingewiesen, dass bereits vor ihr insbesondere Autorinnen über komplexe, möglicherweise verbrecherische Frauen geschrieben haben.
In „Die blaue Stunde“ referenziert sie nun mehrfach Daphne Du Maurier. Die Geschichte eines betrügerischen Ehepartners, der verschwand und möglicherweise im Meer ertrunken ist, erinnert, wie auch die einsame Lage des Hauses, an „Rebecca“. Dieser Roman sowie weitere Kurzgeschichten Du Mauriers werden sogar namentlich genannt.
Diese Verweise dokumentieren aber auch die größte Schwäche dieses unterhaltsamen, gut zu lesenden Romans: Wer beispielsweise Du Maurier gelesen hat, weiß von Anfang an, wem hier am wenigsten zu trauen ist.
Bei aller psychologischen Komplexität insbesondere ihrer weiblichen Figuren geht Paula Hawkins nicht dorthin, wo zu den üblichen Verletzungen und Demütigungen noch etwas hinzukommen könnte. Etwas, das man noch nicht vielfach gelesen hätte. Und so verpasst der solide Spannungsroman die Gelegenheit, der großen jahrhundertelangen Erzählung von zwielichtigen Frauen etwas hinzuzufügen.
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